Ohne Strom geht auf den Hauptverkehrsachsen der Bahn nichts. Derzeit ist Traktionsenergie extrem teuer, in Deutschland wie in Österreich.

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Die Energiewende kommt auch bei der Österreichischen Bundesbahn an. Um die bisweilen explodierenden Preise für Bahnstrom zu stabilisieren und von Preisausschlägen unabhängiger zu werden, will die Staatsbahn die Eigenproduktion mit Wasser-, Wind- und Solarstrom bis 2030 fast verdreifachen.

STANDARD: Die ÖBB will ihre Eigenproduktion an Strom von aktuell 30 Prozent auf 80 Prozent erhöhen. Wie soll das bis 2030 ablaufen, wie sieht diese Energiestrategie aus?

Pluy: Wir orientieren uns dabei an der Verkehrsleistung, also den mit Zügen gefahrenen Kilometern. 2021 waren das 156 Millionen Zugkilometer. Wenn wir bis 2030 um rund 30 Prozent mehr Zugkilometer fahren werden, dann brauchen wir Daumen mal Pi 25 bis 30 Prozent mehr Strom. Die Bahn soll gemäß Mobilitätswende ja Zuwachs haben. Das strategische Ziel ist – auch bedingt durch die Energiekrise – die Erhöhung der Produktion von Bahnstrom auf über 80 Prozent.

ÖBB-Vorstand Johann Pluy will unter anderem Windkraftanlagen errichten, bevorzugt im Osten.
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STANDARD: Wie darf man sich das vorstellen – bauen Sie selber so viele Kraftwerke wie möglich? Das wird sich bis 2030 nicht ausgehen ...

Pluy: Nein, wir machen nicht alles allein, sondern mit Partnern, die direkt über Vorleitungen oder das Hochspannungsnetz in das Bahnstromnetz einspeisen.

STANDARD: Die ÖBB hat ja bereits Partnerkraftwerke, deren Strom über Umformer in das Bahnstromnetz eingespeist wird ...

Pluy: An der Enns, in St. Pantaleon und Weyer und in Annabrücke an der Drau in Kärnten stehen jeweils Generatoren für 16,7 Hertz Bahnstrom, und damit werden rund 25 Prozent unseres Strombedarfs produziert. Insgesamt betreiben die ÖBB acht Bahnstrom-Wasserkraftwerke und seit zwei Monaten ein Windkraftwerk und sechs Photovoltaik-Anlagen, die direkt einspeisen. Damit produzieren wir ein gutes Drittel des Bahnstroms heute schon selbst.

STANDARD: Wo wollen Sie Elektrizitätsanlagen ausbauen?

Pluy: Möglichst nahe der Strecke, um Energieverluste zu minimieren. Wo immer es möglich ist, werden wir Windkraftanlagen errichten, bevorzugt im Osten, wo viel Wind weht.

STANDARD: Idealerweise braucht die für Bahnstrom zuständige ÖBB-Infrastruktur Laufkraftwerke, denn mit Speicherkraftwerken produziert man im Normalfall Spitzenlaststrom, den man an der Strombörse zu guten Preisen verkauft. Den Bahnstrom kaufen Sie dann über Langfristverträge etwa beim ÖBB-Partner Verbund?

Pluy: So wäre es in der Theorie, wenn wir ein Energieversorger wären. Aber wir sind kein Stromhändler. In der Praxis ist es viel komplizierter. Der Unterschied zwischen Bahnstromversorger und einem öffentlichen Versorger ist: Wir müssen mit unseren Speicherkraftwerken ständig den stark schwankenden Bahnstromverbrauch nachregeln, um die 70 Eisenbahnverkehrsunternehmen zu versorgen und den Bedarf an Ausgleichsenergie so gering wie möglich zu halten. Denn Ausgleichsenergie ist teuer. Langfristig planen wir den Einsatz unserer Speicherkraftwerke natürlich gegen die Marktpreise. Wann ist es am besten, einen Kubikmeter Wasser abzulassen? Das ist die Kernfrage. Dabei müssen wir den Verbrauch einrechnen und den Netzverlust gering halten.

STANDARD: Der Investitionsplan sieht eine Milliarde Euro bis 2030 vor. Wo wird wie viel investiert?

Pluy: Ungefähr 70 Prozent des Investitionsvolumens gehen in die Erzeugung, 30 Prozent in die Netzertüchtigung. Das Netz ist der Schlüssel, es muss bidirektional ausgebaut sein. Ohne Netzertüchtigung wird es schwierig mit der Energiewende.

STANDARD: Klingt sehr ambitioniert. Der Ausbau des ÖBB-Kraftwerks Spullersee allein war ein jahrelanges Ärgernis. Was dauerte da so lange?

Pluy: Es ging um das Wasser des Lechs, das über die Beileitung Ost über 800 Meter Fallhöhe eingeleitet werden sollte. Ich habe damals mein Bestes gegeben, weil es das energetisch wahrscheinlich sinnvollste Projekt in Österreich gewesen wäre. Wir haben das Kraftwerk Spullersee dann ohne Wasser aus dem Lech ausgebaut. Immerhin den Ausbau von Obervellach II und Tauernmoos haben wir geschafft.

STANDARD: Kraftwerke mit Wind und Sonne werden wie ausgebaut?

Pluy: Da machen wir Ähnliches, setzen aber sehr stark auf Partner, denn mit 400 Mitarbeitern in der ÖBB-Energie das Netz, 60 Umspannwerke und Kraftwerke zu betreiben ist an sich schon eine Herausforderung.

STANDARD: Wer sind diese Partner, die klassischen Energieversorger oder Spezialisten für Erneuerbare?

Pluy: Unser derzeitiger Partner im Bereich Wasserkraft ist der Verbund. Bei Photovoltaik und Wind arbeiten wir derzeit mit der Energie Burgenland und mit Projektentwicklern zusammen.

STANDARD: An welchen Standorten ist eine Erweiterung von bestehenden Kraftwerken überhaupt noch möglich? Die Möglichkeiten zum Ausbau von Wasserkraft sind in Österreich ja großteils ausgeschöpft.

Starker Schneefall oder umstürzende Bäume bei Sturmlagen können das Bahnnetz lahmlegen.
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Pluy: Weniger als eine Handvoll Standorte sind beim Ausbau im Vorprojektstadium, dann ist es in Österreich wahrscheinlich vorbei aufgrund der Topografie und der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Von den 700 Millionen Euro im Bahnstrom-Erweiterungsbudget der ÖBB entfallen in der ersten Stufe 150 bis 200 Millionen auf Photovoltaik und Windstrom, der Rest entfällt auf den laufenden Ausbau von Obervellach II und Tauernmoos, das sind großvolumige Einheiten, bei denen die Investitionen erst zu stemmen sind.

STANDARD: Was dauert bei Windkraft so lange? Da gibt es ja bereits jede Menge Expertise.

Pluy: Die Schlüsselfrage ist, wie wir bei Windkraft zu Standorten kommen, aktuell läuft ja das Repowering der Anlagen, die früher eher kleiner konzipiert waren. Wir haben jetzt endlich die Technologie zur Direkteinspeisung von 16,7 Hertz und fangen zum Skalieren an, damit wir mitmachen können.

STANDARD: Wäre es nicht einfacher, "normalen" Strom mit 50 Hertz zu produzieren und ihn auf 16,7 Hertz umzuformen?

Pluy: Nein, das ist viel zu teuer, da würden wir den Vorteil der direkten Einspeisung ins Bahnnetz wieder verlieren. Bei Solarzellen ist es anders, da kommt Gleichstrom heraus, aber trotzdem hat es niemand angeboten in der für uns notwendigen Bahnstrom-Nischentechnologie. Wir wollten es mangels Angebot schon selber entwickeln, aber nun hat sich doch ein Anbieter gefunden. Jetzt haben wir unser Toolset, und jetzt geht es um die Standorte und Partnerschaften in einer schwierigen Branche.

STANDARD: Wie sieht der Investitionsplan aus, wo beginnen Sie mit den Investments?

Pluy: In den nächsten zwei Jahren geht es sicher hauptsächlich um Windkraft, und das wird wohl eher im Osten sein, also Niederösterreich und Burgenland. Wir müssen möglichst verbrauchsnah produzieren. Am meisten Strom brauchen wir entlang der Achsen und der Ballungsräume, wo die Frequenz an Zügen hoch ist. Die alte Regel "Im Westen sind die Kraftwerke und im Osten die Frequenzumformer" gilt nicht mehr, denn wir müssen als Erzeuger die Netzverluste reduzieren. Das soll mit einer dezentralen Struktur gelingen, damit halten wir Ausfälle im Fall eines Stromengpasses zusätzlich lokal begrenzt.

STANDARD: Wie wird das finanziert? Werden die staatlichen Zuschüsse für die ÖBB erhöht?

Pluy: Über den Rahmenplan für den Bahnbau geht es nicht. Denn die Investitionen müssen gemäß EU-Verordnung für zuschussfähige Schieneninfrastruktur sein. Aber unsere Eigentümer sind diesbezüglich sehr entgegenkommend.

STANDARD: Elektrizität ist ja essenzielle Schieneninfrastruktur. Wo ist das Problem?

Pluy: Wenn wir ein Projekt einbringen, haben wir vollen Rückenwind des Eigentümers.

STANDARD: Die Güterbahnen stöhnen unter extrem hohen Stromkosten, die in den Frachtpreisen nicht unterzubringen sind. Wie können preisdämpfende Maßnahmen aussehen?

Pluy: Das ist noch nicht ganz klar. Die EU-Verordnung vom September zu den Notfallmaßnahmen als Reaktion auf die hohen Energiepreise skizziert einen Rahmen, und es ist erst zu diskutieren, wie leistbarer Bahnstrom aussehen kann.

STANDARD: ÖBB-Holding-Generaldirektor Andreas Matthä, also Ihr Chef, hat im August ein Modell Cost + Fee vorgeschlagen. Was ist damit gemeint? Ein Durchschnittspreis mit Zu- und Abschlägen?

Pluy: Das Merit-Order-Prinzip, welches in der ersten Phase der Strommarktliberalisierung seine Berechtigung hatte, ist in der aktuellen Situation aus der Zeit gefallen. Bei Merit-Order bestimmt das Kraftwerk mit den höchsten Grenzkosten, die meist durch den Brennstoffpreis fossiler Anlagen getrieben sind, den Preis des gesamten Marktes. Beim Prinzip Cost + Fee werden die realen Produktionskosten des Stroms als Bemessungsgrundlage herangezogen und mit einem angemessenen Gewinnanteil für den Erzeuger beaufschlagt. Hier liegt das Prinzip einer angemessenen Kapitalverzinsung dahinter, welche die Marktrisiken und die Finanzierungsrisiken abdeckt.

STANDARD: Worauf wartet die Politik? Schienentransporte verlieren massiv an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der Straße, wenn Energiekosten plötzlich 22 Prozent statt bisher zehn betragen.

Pluy: Einfach ist es nicht, denn welche Maßnahmen auch ergriffen werden, es muss in Brüssel notifiziert werden. Österreich hat sich vor Jahren für die Liberalisierung des Bahnstroms entschieden – und die gilt jetzt. Ein Ansatz könnten Förderungen sein, wie es sie in Österreich für Einzelwagenverkehr oder Gefahrenguttransporte bereits gibt. Aber es braucht Koordination auf europäischer Ebene, denn der Schienenverkehr ist grenzüberschreitend, und auch in anderen Ländern sind die Stromkosten hoch. Energie, Personal, Zinsen – das ist ein Dreifachangriff, eine äußerst ungünstige Situation.

Der Speicherstollen des ÖBB-Kraftwerks Obervellach im Drautal wurde heuer fertig ausgebrochen. Er ist 13 Meter hoch, 15 Meter breit, 580 Meter lang und fasst 60.000 Kubikmeter Wasser. Mit dem so erzeugten Strom werden Leistungsspitzen ausgeglichen.
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STANDARD: Mit welchem Preisniveau für Traktionsenergie rechnen Sie 2023 für Bestandskunden, was zahlen Neukunden?

Pluy: 2023 sind es 187 Euro pro Megawattstunde. Das ist immer noch sehr hoch gegenüber 65 oder 67 Euro im Jahr 2021.

STANDARD: Eine Möglichkeit zum Energiesparen bei der ÖBB wäre, aber das liegt nur bedingt in Ihrer Hand als ÖBB-Infrastrukturvorstand, der Einsatz von Leichtfahrzeugen. Der ÖBB-Personenverkehr fährt aber mit schweren Taurus-Loks, die noch dazu erhöhte Schienenabnutzung aufweisen. Wann wird die ÖBB auf diesen Zug aufspringen?

Pluy: Das fällt in der Tat in die Zuständigkeit meiner Kollegen im Personenverkehr. Aber wenn ich eine Halbweisheit teilen darf: Auch Energiesparen ist letztlich eine wirtschaftliche Güterabwägung mit den Investitionen. Bis 2030 investieren die ÖBB 4,1 Milliarden Euro in neue Züge und Rollmaterial, darunter 120 Akkutriebzüge. Die ÖBB springen also bereits auf viele Züge auf.

STANDARD: Kosten sparen könnte man mit Leichtfahrzeugen auch bei der Finanzierung, denn bei den Eurofima-Finanzierungen der Bahnen wird deren Einsatz belohnt. Wäre das nicht ein Ansatz, den die Republik Österreich als Finanzier verfolgen sollte/könnte/müsste?

Pluy: Wie gesagt, nicht meine Baustelle. Als Staatsbahn investieren wir langfristig und nachhaltig.

STANDARD: Also zurück zu "Ihrer Baustelle": Die ÖBB-Infrastruktur bietet verschiedene Tarifmodelle mit unterschiedlichen Laufzeiten. Wer bekommt welchen Tarif?

Pluy: Üblich waren Ein- oder Dreijahresverträge, weil wir den Strom auf drei Jahre im Voraus einkaufen. Wir haben den Eisenbahnunternehmen quasi ein Susi-Sorglos-Paket angeboten. Das EVU gibt eine geschätzte Jahresmenge bekannt, und wir haben zum Preis X alles inklusive angeboten. Der Strom war ja inflationär günstig.

STANDARD: Da war die jetzt verteufelte Merit-Order im Übrigen überaus vorteilhaft ...

Pluy: Ja, aber jetzt hatten wir irrsinnige Ausschläge. Das war für Kunden mit Einjahresverträgen ein Wahnsinn. Deshalb versuchen wir, von unseren Kunden ungefähre Lastprofile zu bekommen, damit wir den Strombedarf besser prognostizieren und managen können. Das ist im Güterverkehr besonders schwierig, weil schwer abschätzbar ist, wann welche Transporte mit welcher Tonnage zu fahren sind. Im Personenverkehr ist es einfacher, da gibt es einen Taktfahrplan, und die Züge sind mehr oder weniger immer gleich. Das ist eine Herausforderung in der Zugsteuerung, wir brauchen pünktliche und energieoptimierte Fahrten. Wir nennen das adaptive Zuglenkung, die über App oder GSM-R auf die Displays der Triebfahrzeuge kommt. Das soll ab 2024 kommen und eine bessere Prognose des Verbrauchs ermöglichen. Der zweite Ansatz ist eine Adaptierung der Einkaufsmodalitäten beim Strom. Darüber verhandeln wir mit den Energieversorgern. Denn die Bahnunternehmen brauchen kalkulierbare Strompreise.

STANDARD: Im Markt sorgt für Unmut, dass die Tarife für Neukunden deutlich höher sind als für Bestandskunden. Ab wann ist man bei der ÖBB ein Bestandskunde?

Pluy: Es ist wie bei den Energieversorgern. Wir bestellen die notwendigen Kapazitäten bei den Produzenten auf Jahre im Voraus, und danach richtet sich der Endkundenpreis. Deshalb haben Bestandskunden vergleichsweise niedrigere Preise, denn von ihnen wissen wir den ungefähren Bedarf. Das ist bei Neukunden schwieriger, deshalb sind die Preise höher. (Luise Ungerboeck, 5.1.2023)