Bei der Produktion von Paracetamol-Medikamenten, wie hier in Frankreich, muss der Wirkstoff aus dem Ausland zugekauft werden – in Europa wird er nicht mehr produziert.

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Kaum ein Schmerzmittel ist so erfolgreich wie Paracetamol. Das weiße, kristalline Pulver steckt in Pillen und Brausetabletten, die in der Erkältungszeit millionenfach über die Apothekentische gehen. Mehr als 150.000 Tonnen werden von der Arznei jedes Jahr produziert – nur nicht in Europa. 2008 sperrte die letzte europäische Produktionsstätte von Paracetamol zu. Dem französischen Chemiekonzern Rhodia war die Produktion in Europa zu teuer geworden. Seitdem dämpft Paracetamol aus China und Indien die Erkältungssymptome der Europäerinnen und Europäer.

Paracetamol ist kein Einzelfall. Mehr als 80 Prozent aller medizinischen Wirkstoffe werden inzwischen in China und Indien hergestellt. So abhängig, wie Europa von russischem Gas war, so abhängig sind wir von in Asien produzierten Arzneien. "Die Chinesen brauchen gar keine Atombombe", drückte es die deutsche Pharmazieprofessorin Ulrike Holzgrabe zu Beginn der Corona-Pandemie im ZDF aus. Denn China könnte einfach keine Arzneien mehr liefern, womit sich Europa "von selbst" erledigen würde. Wie drastisch ist die Lage?

Versorgung derzeit gesichert

Derzeit sind nur leichte Vibrationen der Versorgungslage in Österreich zu spüren. Über 500 Medikamente sind laut einer offiziellen Liste des Bundesamts für Sicherheit im Gesundheitswesen nicht lieferbar. Das klingt nach erschreckend viel – entspricht aber nur rund einem Prozent aller Arzneien. Zudem zählen unterschiedliche Wirkstoffkonzentrationen und Packungsgrößen in der Liste doppelt. Für Fachleute ist die Situation deshalb noch nicht besorgniserregend.

Ein Großteil der Wirkstoffe kommt aus China und Indien.
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Es seien vor allem chemisch einfache Substanzen, deren Produktion ins Ausland verlegt wurde, erklärt Thierry Langer, Leiter des Departments für Pharmazeutische Wissenschaften an der Universität Wien. Die Produktion dieser Arzneien lasse sich einfacher hochfahren, weshalb es selbst während der Pandemie keinen Mangel gab. Nach dem Ende der Null-Covid-Politik in China habe das Land die Produktion von Paracetamol und Ibuprofen im letzten Monat etwa vervierfacht, meldete etwa die staatliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua kürzlich.

Doch selbst wenn Paracetamol einmal ausbleiben sollte, wäre das laut Langer "noch keine Katastrophe". Denn auch wenn die Weltgesundheitsorganisation das Schmerzmittel auf der Liste der unentbehrlichen Arzneien führt, ist es kein Lebensretter. "Das könnte man sofort durch mehrere andere Schmerzmittel ersetzen", sagt der Wissenschafter. Wirklich unersetzliche Medikamente, die über Leben und Tod entscheiden, gibt es nur wenige. Diese produziert Europa großteils noch selbst – "weil man damit Geld verdienen kann", wie Langer sagt.

Schwindender Vorsprung

Auch Alexander Herzog, Generalsekretär des Verbands der pharmazeutischen Industrie Österreichs, betont, dass Europa bei technologisch anspruchsvollen Medikamenten gut dasteht. Die mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 seien etwa zu großen Teilen direkt in Europa entwickelt und produziert worden – und zwar für die ganze Welt. "Die ist die Haute Cuisine der Medikamentenproduktion", sagt Herzog. In China, das nur selbstentwickelte Vakzine nutzen will, ist hingegen bis heute kein mRNA-Impfstoff gegen Corona zugelassen.

Bei der Impfstoffproduktion, wie hier bei Biontech in Marburg, ist Europa gut dabei.
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Dazu könnten die Medikamente der Zukunft ganz anders aussehen als heute: Statt Massenware könnten Menschen auf ihre DNA zugeschnittene Medikamente einnehmen, viele Krankheiten könnten gleich im Vorhinein verhindert werden. Europa ist bei solchen medizinischen Innovationen gut aufgestellt – doch dieser Vorsprung könnte schwinden, warnt Herzog. In Europa seien die Patentanmeldungen für hochinnovative Arzneimittel am Sinken, während sie in den USA und China steigen. Damit Europa den Anschluss nicht verliert, fordert er mehr Geld für klinische Forschung.

Die Fabrik, die niemand will

Wo auch immer die Hightech-Medikamente der Zukunft herkommen werden – eine Grundversorgung mit altbewährten Arzneien gegen Grippe, Erkältungen und Infektionen wird es wohl auch künftig brauchen. Für die Versorgungssicherheit sei es "wünschenswert", wenn sie in Europa produziert werden, sagt Pharmazeut Langer. Doch die Produktion zurückzuholen sei nicht immer einfach. "In Indien stellt man eine solche neue Anlage innerhalb von zwölf Monaten hin, bei uns dauert es Jahre – niemand will eine Chemiefabrik in der Nähe haben", sagt Langer. Und es mache durchaus Sinn, wenn sich Europa auf anspruchsvolle Arzneien fokussiert und die Produktion von einfachen Wirkstoffen Staaten wie Indien oder China überlässt.

Preislich könnten die heimisch produzierten Medikamente ohnehin nicht mit der Konkurrenz aus Fernost mithalten. "Wenn man darauf besteht, dass eine Packung Schmerzmittel vergleichsweise so viel kostet wie ein Wurstsemmerl, wird die Produktion nicht zurückkommen", sagt Pharmavertreter Herzog. Der staatlich auferlegte Preisdruck habe den Produzenten jeglichen Spielraum genommen.

Schwierige Rückholung

Spätestens seit dem Beginn der Pandemie überlegt die Politik, wie sie die Pharmaindustrie in Europa halten kann. "Es ist nicht normal, dass Europa kein einziges Gramm Paracetamol herstellt", sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell Mitte 2020. Noch im selben Jahr kündigte die EU-Kommission eine Arzneimittelstrategie an, um die Abhängigkeit von Drittländern zu verringern. Passiert ist seitdem wenig. Der Plan soll nun im März 2023 vorgestellt werden, wie die "Presse" am Montag berichtete.

Im Tiroler Ort Kundl steht die letzte Antibiotika-Fabrik Europas.
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Unabhängig von der EU versuchen Staaten selbst, die Produktion wichtiger Wirkstoffe auf ihrem Staatsgebiet zu halten. In Kundl in Tirol steht eine der weltweit größten Produktionsstätten für Penicilline – und die letzte in ganz Europa. Der Schweizer Pharmakonzern Novartis überlegte bereits, das Antibiotika-Werk wegen des Preisdrucks aus Asien zu schließen, entschied dann aber doch, die Produktion auszubauen. Wohl auch, weil Bund und Land 50 Millionen Euro zuschossen.

In Frankreich wiederum entsteht ein neues Werk für Paracetamol. Auch dort förderte der Staat die Wiederansiedlung mit viel Geld. 75 Prozent weniger CO2 sollen durch einen neuen Herstellungsprozess entstehen, verspricht der Betreiber Seqens. Ab 2024 soll das wichtige Schmerzmittel dann zum ersten Mal seit 16 Jahren auch wieder aus Europa kommen. (Philip Pramer, 6.1.2023)