Gottesdienste, Kulturprogramm, Infoabende: Die ukrainische Kirche hinter dem Baugerüst in der Wiener Postgasse ist Treffpunkt für viele Geflüchtete.

Foto: Christian Fischer

Das Leben von Pfarrer Taras Chagala ist gerade eine einzige Baustelle. Seit längerem schon wird der Häuserblock mit der ukrainischen Kirche in der Wiener Postgasse im großen Stil renoviert. Als dann am 24. Februar der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, wurden Kirche und Pfarrsaal mit einem Mal auch noch zur Anlaufstelle für Geflüchtete – allen Widrigkeiten zum Trotz.

Seither ist das von riesigen Planen verdeckte Baugerüst eine Kulisse, die passender kaum sein könnte. Denn was sich dahinter abspielt, ist weit mehr als bloß normaler Pfarrbetrieb. Es ist der tägliche Versuch, mit viel Improvisationsgeist jenen Ukrainerinnen und Ukrainern zu helfen, die sich nun in Wien eine – zumindest provisorische – Heimat zusammenzimmern müssen.

Und doch wird natürlich auch hier, in der Ukrainischen griechisch-katholischen St.-Barbara-Kirche, Weihnachten gefeiert. Sogar schon zum zweiten Mal innerhalb zweier Wochen. "Wegen des Krieges wollen viele das Fest nicht mehr am selben Tag wie die Russen begehen", erklärt Pfarrer Chagala.

Zwei Kalender, zwei Termine

Im russisch-orthodoxen Ritus, der sich am julianischen Kalender orientiert, fällt der Weihnachtstag bekanntlich auf den 7. Jänner. Für die Ukrainische griechisch-katholische Kirche mit ihren weltweit mehr als fünf Millionen Gläubigen gilt eigentlich genau dasselbe. In der Diaspora allerdings, gespeist durch gleich mehrere Emigrationswellen im 20. Jahrhundert, haben sich viele Gemeinden längst an ihr neues Umfeld angepasst und den 25. Dezember zu ihrem Weihnachtstag gemacht – eine Tendenz, die sich durch den Krieg nun weiter verstärkt.

Kirche von unten: Pfarrer Taras Chagala wirbt für Toleranz.
Foto: Christian Fischer

Auch die ukrainisch-orthodoxe Kirche erlaubt mittlerweile, Weihnachten nach dem gregorianischen Kalender zu feiern, also am 25. Dezember beziehungsweise am Heiligen Abend davor. Bei Chagala, in der Ukrainischen griechisch-katholischen Kirche in Wien, geht sogar beides: "Wir sind eine von unten aufgebaute, tolerante Gemeinde", sagt er. "Egal, ob die Menschen am 25. Dezember oder am 7. Jänner feiern wollen: Wir feiern mit ihnen."

Und so gibt es in der Wiener Innenstadt an diesem Wochenende noch ein zweites Weihnachtsfest – mit denselben Traditionen wie in der Ukraine, sofern das irgendwie geht. Dort, in der Heimat, erklärt Chagala, treffen sich die Gläubigen am Vorabend des Weihnachtstags zu einem Festessen mit zwölf traditionellen Gerichten – alle ohne Fleisch. Ab dem 7. Jänner gehen die kleineren Kinder dann drei Tage lang von Tür zu Tür, singen Weihnachtslieder und bekommen dafür Süßigkeiten oder Geld.

Krippenspiel im Wohnzimmer

Die etwas Größeren wiederum tingeln mit einem kurzen Krippenspiel durch die Nachbarschaft. Zwölf Rollen gilt es zu besetzen: Mit dabei sind das Jesuskind, die Mutter Gottes, drei Hirten, die drei Könige, Herodes, ein Soldat, der Tod und der Teufel.

Dass man dieser Tage in Wien von zwölf ukrainischen Kindern überrascht wird, die plötzlich an der Tür läuten und einem den Stall von Bethlehem ins Wohnzimmer zaubern, sollte man aber weder erhoffen noch befürchten: Das Krippenspiel wird zuerst in der Pfarre gezeigt – und danach ausschließlich bei Familien, die sich vorher dafür angemeldet haben.

Der Krieg hat allerdings einen Schatten auf all die Vorbereitungen geworfen. Viele haben sich gefragt: Dürfen wir überhaupt feiern, wenn es zur selben Zeit in der Ukraine so viel Leid gibt? "Ja, wir sollen sogar feiern!", lautet Chagalas Antwort. "Es ist gut, wenn die Menschen zusammenkommen, wenn sie nicht nur Dunkel sehen, sondern auch Licht, nicht nur Leid, sondern auch Freude. Das hilft ihnen, Menschen zu bleiben."

Spontane Hilfsbereitschaft

Knapp 80.000 ukrainische Flüchtlinge gibt es derzeit in Österreich – überwiegend Frauen und Kinder. Ewa 30.000 von ihnen leben in Wien. Für viele ist die Kirche in der Postgasse zu einem wichtigen Treffpunkt geworden. "Gleich am ersten Tag des Krieges waren 100 Leute da", erzählt Chagala. "Wir haben im Pfarrsaal eine spontane Versammlung abgehalten und überlegt, was wir tun können." Währenddessen seien auch schon die ersten Österreicherinnen und Österreicher gekommen, die helfen wollten. "Sie haben Plüschtiere für die Kinder gebracht, Essen, Medikamente, Geld. Alles Mögliche."

Um nicht im heillosen Chaos zu versinken, verteilte man Aufgaben und gründete Arbeitsgruppen. Einige davon haben sich inzwischen zu selbstständigen Vereinen gemausert, organisieren Sammlungen in Wien und Hilfstransporte in die Ukraine. Alle sind sie gut vernetzt, die vielen Gruppen in diversen sozialen Medien haben jeweils mehrere Tausend Mitglieder. Unlängst hat Chagala 200 Freikarten für den Musikverein bekommen. "Ich habe das auf Telegram gepostet. Innerhalb von drei Stunden waren alle Tickets vergriffen."

Mariia und Polina arbeiten freiwillig in der ukrainischen Bibliothek.
Foto: Christian Fischer

Auch die Pfarre selbst bietet so gut wie jeden Tag Programm an. Malkurse für Kinder zum Beispiel, Literaturabende, Chorgesang, Theateraufführungen. Derzeit machen in der Theatergruppe ungefähr 40 Schauspielerinnen und Schauspieler mit, die selbst geflüchtet sind, in Österreich aber keine Arbeit finden. Im Kirchentheater verdienen sie zwar nichts, aber wenigstens können sie hier spielen und sich wieder als das fühlen, was sie sind.

Beliebt sind auch die Informationsabende, veranstaltet in Zusammenarbeit mit dem Integrationsfonds. Die Referentinnen und Referenten sprechen etwa über österreichisches Steuerrecht, erklären, wie man hierzulande ein Unternehmen gründet, und sie geben Tipps für die Suche nach einem Job oder nach dem passenden Deutschkurs.

Am Rande des totalen Blackouts

Über all den Versuchen, in Österreich Fuß zu fassen, schwebt jedoch stets die Sorge um die Familien und Freunde in der Ukraine; um die Väter und Ehemänner, die ihr Land verteidigen; um die Nachbarn, deren Häuser bombardiert werden; um die Verwandten, die nach den dauernden russischen Luftangriffen in Kälte und Dunkelheit ausharren.

"Wir leben am Rande des totalen Blackouts", sagt Wolodymyr Malchyn, Leiter der Entwicklungsabteilung der Ukrainischen griechisch-katholischen Kirche in Kiew. Malchyn ist für ein paar Tage nach Wien gekommen, um mit seiner Familie, die seit März hier wohnt, Weihnachten zu feiern. "Ich bin ein verheirateter Priester", erklärt er. "In unserer Kirche gibt es diese Möglichkeit." Was es heißt, wegen des Kriegs von den Kindern getrennt zu sein, weiß er aus eigener Erfahrung. Seine Frau erzählt ihm von deren Ängsten. "Mama, wird Papa in der Ukraine getötet?", hat der fünfjährige Sohn sie neulich gefragt. Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht.

Nach Österreich fahren durfte Wolodymyr Malchyn übrigens nicht etwa deshalb, weil er Geistlicher ist, sondern weil er drei Kinder hat. Allen anderen männlichen Staatsbürgern zwischen 18 und 60 ist die Ausreise aus der Ukraine nach wie vor verboten. So sind die Regeln, und sie gelten auch für ihn.

Noch im Jänner will Malchyn wieder zurückfahren zu seiner Gemeinde in einem Kiewer Außenbezirk. Die Gottesdienste finden dort mittlerweile im Keller der Kirche statt, der gleichzeitig als Bunker dient – genau wie in vielen anderen Gemeinden auch. "Während der Corona-Pandemie gab es die weitverbreitete Vorstellung, die Kirche sei ein gefährlicher Ort", sagt Malchyn. "Jetzt wird sie wieder als Ort des Schutzes wahrgenommen."

Wut statt Angst

Gleich gegenüber dem Pfarrsaal in der Postgasse, auf der anderen Seite der Baustelleneinfahrt, ist die Tür zu einer kleinen ukrainischen Bibliothek. Mariia und Polina, 15 und 16 Jahre alt, arbeiten hier als Freiwillige. Auch sie sind kurz nach Kriegsbeginn mit ihren Müttern nach Wien gekommen. Zuerst haben sie selbst Bücher in ihrer Muttersprache ausgeliehen, mittlerweile gehören sie zum Team. "Viele kommen auch einfach, um zu reden", sagt Polina. "Es ist schön, dass wir auch für sie da sind und ihnen ein bisschen helfen können."

Zu Weihnachten wollten beide ihre Väter in der Ukraine treffen. Angst? Die Frage beantworten sie lieber allgemein, als hätte sie mit ihnen selbst gar nichts zu tun: "Die Menschen haben keine Angst mehr. Sie sind wütend, aber ängstlich sind sie nicht." (Gerald Schubert, 7.1.2023)