Als der Roman 1963 erstmals auf Deutsch erschien, hieß er noch Die Verführung, das entsprach zwar nicht dem polnischen Originaltitel Pornografia, dafür wurde er den Erwartungen des Lesers gerecht, geht es in dieser Geschichte doch vielmehr darum, dass verführt bzw. verkuppelt wird: nämlich die 16-jährige Tochter eines polnischen Landadeligen mit dem gleichaltrigen Landarbeiter Karol. Eigentlich ist Henia mit einem Advokaten aus der Stadt verlobt, aber dann kommen zwei Gäste aufs Landgut, Männer mittleren Alters, Intellektuelle aus Warschau, die ihr eigenes Spiel treiben, sozusagen ein unmoralisches Experiment: ob es gelingt, der Jugend gleichsam ihr Frühlingserwachen zu verschaffen und den gehörnten Verlobten dabei auch noch bloßzustellen.

Der eine der beiden Männer fungiert als Ich-Erzähler, nennt sich – formales Ebenbild des Autors – Witold Gombrowicz; gemeinsam mit seinem Freund Fryderyk legt er es auf diese frivole Intrige an. Sie inszenieren, wohl aus Langeweile, einen Verrat, eine erotische Demütigung, die alles aus dem Gefüge bringen soll. Doch die Handlung nimmt im entscheidenden Augenblick neue Wendungen, plötzlich geschieht ein Mord, der nicht ins Konzept passt, aber dem Spiel der beiden Abwechslung verschafft.

Umso mehr versteht sich die titelgebende Pornografie als die Lust am sinnlichen Fädenziehen, und diese wird weniger in der Handlung als in der Regie gesteigert, denn die Erotik in diesem "theatralischen Experiment" geschieht nicht zwischen den handelnden Personen, zumindest nicht vor den Augen des Lesers, sondern vielmehr in der Perspektive des Zuschauers, Erzählers und letztlich in der Sprache selbst. Pornographie ist eine Erregungsprosa, die ihre Sinnlichkeit in Sprachbildern ausbreitet. "Erregung" ist übrigens ein Schlüsselwort im Roman.

Genialisch: Witold Gombrowicz.
Foto: Archiv

Gegen den Moralismus

Insofern ist der Titel irreführend und doch wiederum nicht. Obwohl sexuelle Handlungen aus keiner Nahperspektive geschildert werden, ist Körperlichkeit im Buch immer präsent – etwa wenn nur ein Nacken oder ein hochgekrempeltes Bein beschrieben werden. Eindeutig ist die Perspektive des Erzählers die des Voyeurs, wobei die Vorliebe des Autors dem Knabenhaften gilt. Der Voyeur will aber nicht nur beobachten, er will das Geschehen auch steuern. Dann knistert es, zumindest in der Vorstellung, ordentlich, und das schließt auch Gewaltfantasien bis hin zur real geschehenden Gewalt mit ein, erst recht, wenn sich Verachtung mit Langeweile paart.

Natürlich ist der Text gegen jeglichen Moralismus angelegt, und nicht nur der Erzähler und sein Freund spielen mit den beiden jungen Menschen (die ihrerseits auch nicht die Unschuld für sich gepachtet haben), auch der Autor spielt mit dem Leser, schafft Erwartungen in ihm und zieht ihn in das erotische Spiel mit hinein: Wird es geschehen, wie, wann? Bei aller Perfidie setzt Gombrowicz sogar auf Witz und Gelassenheit. Dabei müsste einen doch erstarren lassen, dass im Hintergrund der Krieg stattfindet – der Roman spielt 1943 im besetzten Polen –, aber diese Wirklichkeit ist wie eine ferne Kulisse, was das Buch wiederum fast zu harmlos macht. Gombrowicz saß damals auch nicht in Polen, sondern weit weg in Südamerika. Als der Roman 1960 erschien, bekannte er, dass ihm dieses Polen der Kriegsjahre fremd war, aber "das Klima des Krieges" schien ihm der Handlung "am angemessensten".

Witold Gombrowicz,
"Pornographie". Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
€ 24,70 / 249 Seiten
Kampa, Zürich 2022
Witold Gombrowicz,,
"Tagebuch". Aus dem Polnischen von Olaf Kühl.
€ 52,– / 1162 Seiten
Kampa, Zürich 2022

Dieses Klima bestimmt die zweite Hälfte des Romans, als plötzlich ein polnischer Offizier auf dem Landgut auftaucht, ein Mitglied der Untergrundarmee, über das der Verdacht der Kollaboration schwebt: "Liquidieren" lautet der Befehl. Die ohnehin schon bösartige Regie wird noch abgründiger.

Hier kippt die Geschichte vollends in eine reale Tragödie, wobei Gombrowicz ein eben wirklich knisterndes, thrillerartiges Spiel inszeniert, indem er zeigt, wie die Erwachsenen ihre Verantwortung auf das junge Paar abwälzen und dieses noch einmal für ihre Zwecke und Fantasien manipulieren. Die Bereitschaft zum Töten ist übrigens schnell da, und auch das Töten hat in der Perspektive des Erzählers sein erotisches Moment.

Pornographie mag auf den ersten Blick ein schräger Roman sein, er ist zweifellos ein formales Meisterstück und unbestritten Weltliteratur. Nach Hanser in den 1980er-Jahren besorgt nun der Zürcher Kampa-Verlag eine Neuausgabe von Gombrowiczs Werk. Zeitgleich mit Pornographie ist auch das gewaltige Tagebuch erschienen, das Gombrowicz 1953 zu schreiben begann, um sich selbst und sein Werk zu erklären. Darin findet man wichtige Aufschlüsse auch zu den Absichten von Pornographie: Er habe den Roman aus der Überzeugung geschrieben, "dass der Mann der Welt hilflos gegenübersteht".

Das formuliert jenen Existenzialismus, unter dem man sein Werk zusammenfassen kann: das Menschsein als ständige Vergewaltigung. Literaturwissenschafter sehen das Tagebuch sogar als Gombrowiczs wichtigstes Werk, da mag was dran sein. Aber vergessen wir nicht seine Romane, die sich inhaltlich wie formal den Konventionen entziehen und die so teuflisch genial erscheinen wie eben Pornographie. (Gerhard Zeillinger, 7.1.2023)