Ganz in Schwarz gehüllt, mit Kopftuch und Sonnenbrille: Gottfried Helnwein hat sich bereits vor Jahrzehnten seine eigene Künstleruniform kreiert. Zum 75er richtet ihm die Albertina eine Retrospektive aus.

Foto: Hamish Brown

Im Oktober feiert Gottfried Helnwein seinen 75. Geburtstag. Aus diesem Grund richtet die Albertina dem zwischen Los Angeles, Irland und Wien pendelnden Künstler im Herbst eine große Ausstellung aus. Darin u. a. zu sehen: hyperrealistische Bilder von verletzten oder wehrlosen Kindern, mit denen der Künstler Weltruhm erlangte – und regelmäßig die Öffentlichkeit polarisiert. Am Stephansdom hängt bereits seit einigen Wochen das Sujet eines blutüberströmten Mädchens, mit dem Helnwein auf die Proteste im Iran aufmerksam machen möchte, am Ringturm wird im Vorfeld der Wiener Retrospektive ein Motiv des Künstlers appliziert. Bereits 2018 sorgte Helnwein mit seiner Ringturmverhüllung für viel Aufregung. Ein Gespräch zum Jahresanfang.

STANDARD: Ob Ukraine-Krieg, Energiekrise oder Teuerung: Die Unsicherheiten sind groß. Mit welchen Gedanken blicken Sie ins neue Jahr?

Helnwein: Die Unsicherheit der Menschen kann ich gut nachvollziehen, der Ukraine-Konflikt hat uns an den Rand eines Atomkrieges gebracht. Es scheint, dass sich die Menschheit schwer damit tut, aus der Geschichte zu lernen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hat Bertha von Suttner vor der kommenden Katastrophe gewarnt. Ihre Warnung war natürlich vergeblich. Die Macht der Propaganda ist immer stärker und überzeugender für die Menschen. Wie viele Künstler habe ich ein notorisches Misstrauen gegen offizielle Narrative und die Gläubigkeit der Massen. Ich frage mich immer: Was passiert wirklich?

STANDARD: Macht der Propaganda? Was meinen Sie damit?

Helnwein: Ich bin davon überzeugt, dass die offiziellen Narrative nie der Wirklichkeit entsprechen. Egon Bahr hat gesagt, egal was man Ihnen erzählt, in der internationalen Politik geht es nie um Demokratie und Menschenrechte, sondern nur um die Interessen von Staaten. Oder um Henry Kissinger zu zitieren: Amerika hat weder Freunde noch Feinde, nur Interessen. Damit sind wir näher an der Wahrheit.

STANDARD: Von welcher Wahrheit sprechen Sie? Sie unterstützen u. a. Alice Schwarzer und Peter Weibel, die mit einem offenen Brief gegen die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine eintreten. Inzwischen zeigt sich, wie wichtig diese Waffen sind.

Helnwein: Wie nach jedem kriegerischen Konflikt werden sich die Kriegsparteien irgendwann auf irgendeinen Friedensvertrag, einen Kompromiss einigen müssen. Die Verlierer dieses Krieges werden, wie immer, die Menschen, die Frauen und Kinder sein und die Gewinner, wie immer, die Waffenindustrie und die Banken. Je länger der Konflikt dauert, desto mehr Opfer wird es geben. Alle beteiligten politischen Kräfte arbeiten derzeit an einer weiteren Eskalation, ich sehe keinen Politiker, der sich ernsthaft um eine Deeskalierung bemüht. War es wirklich fair, dass Schwarzer und hunderte Künstler und Intellektuelle, die sich in ihrem Appell für Friedensverhandlungen eingesetzt haben, mit einem derartigen Shitstorm überzogen wurden?

STANDARD: Sie hinterfragen offizielle politische und mediale Institutionen. Fragen zu stellen ist auch eine Aufgabe von Kunst. Wie erfolgreich waren Sie in Ihrer Karriere im Entwerfen von Gegennarrativen?

Helnwein: Ich bin durch die Nachkriegszeit geprägt. Die ersten Informationen über den Holocaust und besonders der Prozess gegen Franz Murer, den "Schlächter von Wilna", der in der Nazi-Zeit tausende Menschen gefoltert und getötet hat und in einem Skandalprozess freigesprochen wurde, haben mein Vertrauen in die Gesellschaft, die Autoritäten und die Werte meiner Elterngeneration erschüttert. Ich habe damals begonnen, mich obsessiv mit dem Thema Gewalt zu beschäftigen, auch mit dem Vietnamkrieg, der damals stattfand, den Gräueltaten der Soldaten an der Zivilbevölkerung und der Verwüstung der Natur durch Agent Orange. In meinen Recherchen bin ich auf die weitverbreitete Gewalt gegen Kinder gestoßen. Irgendwann wurde mir klar, dass Kunst die einzige Möglichkeit war, mich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Kunst hat keine unmittelbare Macht, aber sie kann den Menschen eine andere Sicht auf die Dinge vermitteln.

STANDARD: Die gesellschaftlichen Maßstäbe an Kunst sind heute andere als vor Jahrzehnten. Was damals erregte, interessiert heute kaum mehr. Oder umgekehrt. Wie erleben Sie das in Ihren künstlerischen Arbeiten?

Helnwein: Die Menschen haben eigentlich immer sehr emotional auf meine Arbeiten reagiert. Die Reaktionen haben sich nicht wesentlich verändert, aber die Richtlinien der Autoritäten und Institutionen schon. PC und Cancel-Culture haben unsere Freiheit enorm eingeschränkt. In den 60er- und 70er-Jahren hatten wir das Gefühl, wir hätten uns die totale künstlerische Freiheit erobert, es gäbe keine Tabus mehr, und wir waren überzeugt, dass dieser Zustand irreversibel sei. Die letzten Jahre haben aber gezeigt, dass das nur ein kurzer Traum war, denn diese neue Political Correctness schränkt uns immer mehr ein und nimmt uns langsam die Luft zum Atmen. Sie ist ein raffiniertes System der Kontrolle und Zensur, gegen das man sich nicht leicht wehren kann, da es im Mantel des Gutmenschentums daherkommt.

STANDARD: Aber ist es nicht wichtig, dass Minderheiten geschützt oder Hassreden aufgezeigt werden?

Helnwein: Natürlich, aber diese Rechtfertigung wird leider massiv ausgeweitet und missbraucht, um alle, die sich nicht konform verhalten, zum Schweigen zu bringen und aus dem sozialen Netz auszuschließen. Wir erleben das ja aktuell bei den sozialen Medien: Elon Musk ist gerade dabei, das ganze Ausmaß an Manipulation und Zensur bei Twitter aufzudecken. Er sagte: "Alle Verschwörungstheorien bezüglich Twitter haben sich als wahr herausgestellt." Es ist bewiesen, dass CIA, FBI und andere staatliche Stellen kontrolliert haben, wer was sagen durfte, und dass Millionen Menschen, Wissenschafter, Künstler und Journalisten mundtot gemacht wurden.

STANDARD: Das ist eine schwerwiegende Behauptung. Sie ecken immer wieder an. Zeugt es nicht von einer offenen Diskussionskultur, dass Sie Ihre Meinung äußern können?

Helnwein: Dafür muss ich jetzt auch schon dankbar sein? In den sozialen Medien wurden übrigens auch meine Bilder immer wieder zensiert, und das, obwohl sie in der Vergangenheit in Ausstellungen und Büchern schon oft gezeigt wurden.

STANDARD: Museen sind per se Institutionen, die die Kunst kontrollieren. Vor Ihrer Retrospektive im Herbst in der Albertina gehen Sie wieder raus in den öffentlichen Raum, so wie jetzt mit Ihrem Plakat am Stephansdom. Ein Versuch, sich der Kontrolle des Kunstsystems zu entziehen?

Helnwein: Ich habe immer auch nach Medien außerhalb der üblichen Institutionen gesucht, um Menschen mit meinen Arbeiten zu konfrontieren. Mich interessiert die spontane Reaktion der Menschen.

STANDARD: Sie planen vor Ihrer Albertina-Retrospektive eine Installation am Ringturm, so wie bereits 2018. Was werden Sie affichieren?

Helnwein: Selbst wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen nicht sagen. Lassen Sie sich überraschen. (Stephan Hilpold, 7.1.2023)