Es braucht Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Anstand, sagt die ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofes und Neos-Abgeordnete Irmgard Griss in ihrem Gastkommentar.

Foto: Fatih Aydogdu

Der französische Soziologe Émile Durkheim beschreibt die Demokratie als "jene politische Form, durch die die Gesellschaft zum reinsten Bewusstsein ihrer selbst gelangt". "Ein Volk ist umso demokratischer", schreibt Durkheim, "je größer die Rolle ist, die Beratung, Reflexion und kritisches Denken bei der Behandlung der öffentlichen Angelegenheiten spielen."

Das Parlament ist der Ort, an dem Beratung, Reflexion und kritisches Denken ihren Platz haben. So wird eine Politik möglich, die von Verständnis und Vernunft geprägt ist, ihrer Verantwortung gerecht wird und damit Vertrauen schafft. Das ist heute wichtiger denn je. Denn das Vertrauen in die Demokratie sinkt seit Jahren. Nach dem Demokratie-Monitor des Sora-Instituts ist die Zufriedenheit mit dem politischen System 2022 in Österreich erneut geringer geworden. Nur mehr 34 Prozent meinen, dass das politische System gut funktioniert. Das ist der tiefste Wert seit Erhebungsbeginn 2018; damals war die Zufriedenheit noch 30 Prozentpunkte höher. Die Vertrauenskrise ist eine Krise der Repräsentation. Der Bundesregierung vertrauen derzeit 33 Prozent (minus neun Prozentpunkte), dem Parlament 38 Prozent (minus acht Prozentpunkte) und dem Bundespräsidenten 53 Prozent (minus sechs Prozentpunkte).

"Wenn das Parlament verlorenes Vertrauen wiedergewinnen will, wird es aber auch eine innere Erneuerung brauchen."

Eine besorgniserregende Entwicklung. Sie kommt nicht von ungefähr. Ein wesentlicher Grund sind die zahlreichen Fälle, in denen der begründete Verdacht politischer Korruption besteht. Zum Schwund an Vertrauen beigetragen hat wohl auch die Unverfrorenheit, mit der in den Chatnachrichten über öffentliches Gut verfügt wurde. In ein schiefes Licht wurden damit alle Politikerinnen und Politiker gerückt, auch wenn sie und ihre Institution daran nicht beteiligt waren. Das gilt vor allem auch für das Parlament. Es wird zwar ab jetzt demnächst in einem rundum erneuerten Gebäude tagen, wenn es verlorenes Vertrauen wiedergewinnen will, wird es aber auch eine innere Erneuerung brauchen.

Ehrliche Arbeit

Dabei muss klar sein, dass Vertrauen nicht unmittelbar geschaffen werden kann. Es ist eine Folge ehrlicher Arbeit und anständigen Verhaltens. Ein erster Schritt könnte sein, durch Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Anstand zum Ansehen des Parlaments beizutragen.

Mit Aufmerksamkeit meine ich die Bereitschaft zuzuhören. Nicht bloß körperlich anwesend zu sein, sondern sich auch geistig dafür zu öffnen, was in Reden und Debattenbeiträgen gesagt wird. Da ist derzeit viel Luft nach oben. Wenn Schulklassen im Parlament Sitzungen mitverfolgen, dann fällt ihnen immer wieder unangenehm auf, dass Abgeordnete vor ihrem aufgeklappten Laptop sitzen, die Zeitung lesen oder sich mit ihrem Mobiltelefon beschäftigen.

"Ich habe mehrmals erlebt, dass die Regierungsparteien selbst Anträge ablehnten, in denen genau das gefordert wurde, was auch im eigenen Regierungsprogramm stand."

Achtsamkeit ist mehr als Aufmerksamkeit. Wer achtsam ist, nimmt bewusst wahr und bringt dem, was er wahrnimmt, Verständnis entgegen. Er lehnt Anträge und Anregungen nicht reflexhaft ab, nur weil sie von der "falschen" Partei kommen. Das geschieht derzeit immer wieder. Ich habe mehrmals erlebt, dass die Regierungsparteien selbst Anträge ablehnten, in denen genau das gefordert wurde, was auch im eigenen Regierungsprogramm stand. Man finde den Vorschlag ja gut, wolle aber "die große Lösung" und könne daher nicht zustimmen.

Anständiger Umgang

Ganz selbstverständlich sollte sein, dass Abgeordnete einander mit Anstand begegnen. Das gilt nicht nur für den Umgang zwischen Männern und Frauen, sondern ganz allgemein. Mit einem anständigen Umgang unvereinbar ist es, wenn nicht sachlich argumentiert wird, so nach dem Motto, warum sachlich, wenn es persönlich auch geht. Persönliche Angriffe sind ein Armutszeugnis. Offenbar hat der oder die in der Sache nichts zu sagen.

Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Anstand stärken nicht nur das Ansehen des Parlaments und das Vertrauen in die Demokratie. Auch zum Erfolg der parlamentarischen Arbeit tragen sie ganz wesentlich bei, und zwar im Sinne einer Politik, die von Verständnis und Vernunft geprägt ist, ihrer Verantwortung gerecht wird und damit Vertrauen schafft.

Kein lästiges Übel

Dazu braucht es als Gegenüber eine Regierung, für die das Parlament nicht ein lästiges Übel, sondern ein geschätzter Sparringspartner ist. Die Voraussetzungen dazu müssen beide Seiten schaffen. Die Regierung muss sich der Diskussion ihrer Vorhaben mit der Bereitschaft stellen, berechtigte Kritik zu berücksichtigen.

"Ziel muss es immer sein, eine gute Lösung, einen tragfähigen Kompromiss zu finden."

Die Abgeordneten dürfen Kritik nicht um ihrer selbst willen üben. Ziel muss es immer sein, eine gute Lösung, einen tragfähigen Kompromiss zu finden. Dass es so gut wie immer ein Kompromiss sein wird, liegt in der Natur der Sache. Die Parteien sind ja dazu da, die unterschiedlichen, einander oft widersprechenden Interessen zu vertreten. Für ein konstruktives Miteinander wesentlich ist auch, dass die Regierung die Kontrollrechte des Parlaments respektiert und sie nicht durch Tarnen und Täuschen auszuhebeln versucht. Den Abgeordneten der Opposition muss es um Aufklärung gehen. Sie dürfen nicht der Versuchung erliegen, durch persönliche Angriffe und Diffamierungen im parteipolitischen Wettbewerb punkten zu wollen.

Gelingen wird das nur, wenn beide, Parlament und Regierung, eine Politik leben, die sich am Gemeinwohl orientiert, die sich ihrer Verantwortung bewusst ist und die über den nächsten Wahltermin hinausdenkt. Denn die Zukunft ist das, was wir heute dafür tun. Das gilt in ganz besonderem Maß für die Politik. (Irmgard Griss, 7.1.2023)