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Woke und Cancel-Culture landeten jedenfalls mit großem Karacho in den Diskursen des letzten Jahres.

Foto: Getty Images / Yifei Fang

Gregor Bloéb ließ kürzlich wohl so manche "Wokeness"-Geplagte aufatmen. Der Schauspieler hat als neuer Intendant der Tiroler Volksschauspiele in Telfs angekündigt, einen "blasenfreien Raum für alle" zu schaffen. Denn die Kunst bediene eben nur "die eigene Blase". Stattdessen müsse sie wieder "dem Volk" gehören, und Bloeb höchstselbst will sie den "Normalbürgern" zurückgeben. Wer ihnen die Kunst weggenommen hat, darüber ließ der Tiroler keine Zweifel aufkommen. Es sei die "aktivistische Woke-Bewegung", die gar faschistoid sei. Sein Gegenprogramm: ein Theater der "Naturinstinkte", ein "blasenfreier Raum".

Es sind viele nebulöse Schlagwörter, die in dieser wackeren Ankündigung stecken. Und doch wissen nahezu alle, was gemeint ist: Die Debatte über limitierende Diskurse, in denen neuerdings eine arge moralische Diktion vorherrschen soll. Ein autoritäres Verräumen von Begriffen, obwohl sie uns so schön in Nostalgie hüllen. So litten 2022 offenbar viele an der Kritik an Karl Mays Winnetou. Eine Verkitschung des Kolonialismus lautete diese angesichts einer geplanten Neuauflage der alten Plots. Ebenso Ärger gab es über die Einladung des Hip-Hop-Musikers Yung Hurn zur Eröffnung der Wiener Festwochen im vergangenen Sommer. Muss ausgerechnet jemandem mit massig sexistischen Texten eine Bühne geboten werden? Das sind nur zwei Beispiele, gegeben hat es mehr.

Jedenfalls ist der Tiroler Neo-Intendant nicht allein mit seinem Unbehagen. Und das beschert uns einen Debattenkreislauf, der nicht nur bezeichnend für das Jahr 2022 war, sondern der schon viel länger läuft – und in den wir wohl auch im neuen Jahr mehrmals geraten werden. Wahrscheinlich wieder ohne Erkenntnisgewinn. Was passiert da eigentlich?

Nebelmaschinen?

Fest steht, dass sich alles ziemlich neu anhört: Blase, Woke und nicht zu vergessen die Cancel-Culture. Neben dem besonders jungen "Woke" und der "Cancel-Culture", die überhaupt erst 2019 vermehrt auftauchte, kommt "Blase" von dem vor rund zehn Jahren entwickelten medienwissenschaftlichen Begriff der "Filterblase". Durch einen Informationsfluss, der im Netz mithilfe von Algorithmen auf Nutzer und Nutzerinnen zugeschnitten ist, stehen wir inmitten einer Blase, die nur bejahend reflektiert, was wir selbst denken. Keine kritischen Diskussionen, keine Herausforderung der eigenen Position – ein Zustand, der zuletzt immer öfter auch im analogen Raum identifiziert wurde.

Blasenmäßig scheint auch "Wokeness" zu sein, das sich auf ein Weltbild der moralischen Überlegenheit limitiere und infolgedessen alles "canceln" würde, was dem nicht entspricht. Das ist aber nur eine Interpretation dieser Begriffe. Eine auch nur halbwegs verbindliche Definition gibt es nicht, die Begriffe blieben diffus. Schlagworte bis hin zum Totschlagargument. Woher der Begriff Cancel-Culture kommt, ist nicht klar. In Deutschland tauchte er 2018 auf Twitter auf – doch wurde er beileibe nicht nur dort groß gemacht. Vielmehr griffen klassische Medien den Begriff schnell und intensiv auf. Cancel-Culture war immer schon negativ konnotiert, anders als "woke". "Stay woke" hieß es im Zuge der ersten großen Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung 2014. Woke meinte somit Wachsamkeit gegenüber Rassismus, Übergriffen und struktureller Gewalt gegen Minderheiten und war Mitte der 2010er-Jahre nicht negativ besetzt, sondern wurde durchaus als Selbstbeschreibung benutzt.

Woke und Cancel-Culture landeten jedenfalls mit großem Karacho in den Diskursen des letzten Jahres. Doch konnte anhand dieses neuen Begriffsinstrumentariums irgendwas geklärt werden? Sind sie brauchbare Analyseinstrumente? Oder sind es vielmehr Nebelmaschinen?

Der Literaturwissenschafter Adrian Daub sieht im Diskurs über Cancel-Culture klar die Neuauflage der Political Correctness. Unter diesem Label wurden unzählige Artikel darüber geschrieben, wie eine neue kulturelle Hegemonie den Menschen diktieren würde, wie sie über Minderheiten und Genderhemen zu sprechen und zu schreiben hätten. Eine Neuauflage musste angesichts dessen, wie lange dieser Diskurs schon lief, tatsächlich dringend her. Bereits in den frühen 1990er-Jahren tauchten die ersten Berichte über Entwicklungen an US-amerikanischen Unis auf, die als besorgniserregend beschrieben wurden. In Europa wurden diese Berichte als Warnung vor "amerikanischen Zuständen" aufgegriffen, die angeblich schon damals unmittelbar vor dem Einzug in Europa standen.

Moralische Panik

Im Oktober 1990 schrieb der Journalist Richard Bernstein für die New York Times über die "wachsende Hegemonie der politischen Korrektheit", die in den Unis Einzug halte und sich in Intoleranz und einem linken Konformitätsdruck äußere. Es war auch jene Zeit, als an US-amerikanischen Unis zunehmend Kurse angeboten wurden, um der demografischen Veränderung und Diversität an den Unis gerecht zu werden: Es entstanden Angebote zu Critical Race Studies oder Gender-Theorien. Und queere und nichtweiße Menschen übten hörbarer Kritik am Literatur- oder Wissenschaftskanon, wenn auch längst nicht in dem Ausmaß, wie Medienberichte schon damals behaupteten. Aber ja, es gab sie. Bereits 1984 etwa im US-Bundesstaat Illinois eine Initiative, die Harper Lees Wer die Nachtigall stört wegen der Verwendung des N-Worts nicht mehr im Lehrplan sehen wollte. Es blieb beim Versuch. "Eine Schnapsidee? Vielleicht. Aber jedenfalls keine neue", schreibt Adrian Daub über derartige Initiativen in seinem kürzlich erschienenen Buch Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst.

Die Kontinuität dieser Debatte passt so gar nicht zu dem, was Daub mit der Verbreitung einer "moralischen Panik" beschreibt. Panik ist eine Reaktion auf eine unmittelbare reale oder angenommene Gefahr. Würden wir also weiter von Political Correctness sprechen, müsste langsam deutlich werden, dass so unmittelbar und groß die Gefahr wohl nicht sein kann: Bis heute lenken keine linksgeneigten, queer-feministischen und antirassistischen Kräfte die Geschicke der USA und Europas.

Doch die Warnungen genau davor sind ein weiterer wesentlicher Teil des Diskurses: Donald Trump nutzte wie viele andere rechte Politiker und Politikerinnen Political Correctness, um eine bestimmte Vorstellung von einer abgehobenen Elite zu verbreiten. Für sie wäre politische Korrektheit wichtiger als die die echten Probleme der Menschen. Die britische US-amerikanische Autorin Moira Weigel schreibt in einem Rückblick auf Political-Correctness-Debatten, dass Neokonservative ab den 1990er-Jahren massiv mit der Vorstellung arbeiteten, dass eine neue urbane Elite auf Arbeiterinnen und Arbeiter vergessen würde. Nach diesem Narrativ hätten sie ihre Probleme nicht wegen eines laufenden Abbaus von Sozialleistungen, fehlender gesetzlicher Krankenversicherungen, der Schwächung oder Zerschlagung von Gewerkschaften oder niedriger Steuern auf hohe Einkommen, die wirtschaftsliberale Parteien forcierten. Nein, sie hätten sie, weil sie wegen queerer, nichtweißer Menschen oder Frauen- und Minderheitenrechten beiseitegeschoben werden würden.

Shakespeare geht es gut

Bis heute sind Anekdoten über verjagte Professoren, weil sie mal was Falsches gesagt hätten, und die Verbannungen von Shakespeare und Kant von Leselisten ein zentraler Anker für die Erzählung einer Bedrohung von Meinungsfreiheit und liberalen Werten. Alle kennen inzwischen die Geschichten, nach denen in den USA seit Aufkommen der #MeToo-Bewegung 2017 Männer nicht mehr allein mit einer Frau im Aufzug fahren – denn die Frau könnte den Mann ja des Missbrauchs beschuldigen, wegen irgendeiner Nichtigkeit. Angesichts der anhaltenden sexualisierten Gewalt gegen Frauen sind das zynische Anekdoten.

Shakespeare und einem vorwiegend weißen Literaturkanon geht es an den Theatern auch bestens, wie ein Blick auf die Spielpläne verrät. Und Kant, dem kleinen Rassisten, an den Philosophie-Instituten sowieso. Dass Leselisten an Universitäten nicht ewig gleich bleiben, ist eigentlich normal. Das wird aber als die absolute Einschränkung der Meinungsfreiheit hochstilisiert, während ignoriert wird, dass in US-Schulen tatsächlich Bücher per Gesetz verboten werden, weil sie queere Lebensrealitäten zeigen oder in die verhasste Kategorie "Critical Race Theory" eingeordnet werden.

Daub beschreibt Anekdoten als eine Art "stille Post": Etwas kommt im Weitererzählen hinzu oder wird missverstanden. Manche stimmen, manche in der dargelegten Drastik nicht. Letztendlich sind es vereinzelte Fälle, die aber zur Ankündigung eines fundamentalen Paradigmenwechsels hochstilisiert werden. Das heißt nicht, dass ein mieser Umgang mit Leuten in Ordnung ist, die sich mal ungeschickt ausdrücken oder ein durchaus kompliziertes Vokabular, um über politische Verhältnisse zu sprechen, nicht beherrschen. Ist es nicht. Aber es ist kein Beleg dafür, dass sich die Machtverhältnisse gerade umkehren. In den USA werden überdurchschnittlich viele schwarze Menschen inhaftiert, sie sind ärmer, von Polizeigewalt bedroht, die sie oft das Leben kostet. Bis heute. Es gibt zahllose Studien, die seit Jahrzehnten all das belegen.

Neu errungener Opferstatus

Und noch einen zentralen Mechanismus hat die Rede von Cancel-Culture respektive Political Correctness: Sie erlaubt es, auf Kritik einfach nicht zu reagieren. Noch mal Trump: Als er von der Journalistin Megyn Kelly mit Aussagen über Frauen konfrontiert wurde, dass es "nett wäre, sie auf Knien zu sehen", war seine Antwort: "Ich denke, das Problem in diesem Land ist, dass es so politisch korrekt ist." Ganz ähnlich läuft es in Debatten in Deutschland oder Österreich. Man muss auch nicht ultrakonservativ sein, um sich dieses Kniffs zu bemächtigen. Bei der Kritik an Yung Hurns Auftritt bei der Festspieleröffnung war die vorrangige Reaktion nicht argumentativer Natur, sondern: Das ist Cancel-Culture. Ähnlich war es bei der Kritik an Lisa Eckart und ihren als antisemitisch wahrgenommenen Aussagen in einem ihrer Programme. Das ist Gefährdung der Freiheit der Kunst! Dabei wäre es doch interessant zu erfahren, wo Eckart in manchen ihrer Witze nun genau den Unterschied zu dem noch immer weit verbreiteten Antisemitismus sieht. Oder wie Ironie jetzt tatsächlich im Zusammenhang mit Sexismus funktioniert.

Die Frage ist, ob Kritik – auch wenn sie massiv ist – Gesprächsverweigerung ist. Oder ist es die Empörung über Cancel-Culture, wenn sie jede Kritik übertönt? Von dieser fühlen sich im Übrigen oft die betroffen, die zahllose Bücher verkaufen, massig TV-Auftritte haben und gerade mit diesem neu errungenen Opferstatus der Gecancelten noch mehr Aufmerksamkeit generieren.

Auch Adrian Daub sieht im Cancel-Culture-Diskurs eine aufmerksamkeitsökonomische Funktion. Und der Kampf um Aufmerksamkeit hat sich via soziale Medien demokratisiert. Alle haben dort die Chance auf Sichtbarkeit. Wenn, dann passt der Begriff Cancel-Culture am ehesten dorthin, meint Daub. Ein bisschen blocken dort, harsches Urteil, wenn auf arg reduziertem Platz eine Position falsch rüberkommt. Dann geht's schnell. Doch dass es richtig abgeht, ist von digitalen Plattformen durchaus gewollt. Emotion hält die Menschen eher dort als differenzierte Debatten. Ein laufend kritischer Blick darauf wäre wohl konstruktiver als einer auf "die Woken".

Nichtsdestotrotz: Sie existiert, die selbstgerechte Kritik, Podien, die boykottiert werden, weil Person A dort ist und Person Z sich mit der nicht zeigen will, ein übertriebener Fokus auf Ausdrucksweisen. Allerdings findet das meist in sensibilisierten Kontexten statt und ist somit eher selbstreferenziell als eine unmittelbare Bedrohung der Meinungsfreiheit.

Kürzlich erzählte die Autorin und Moderatorin Jagoda Marinić, weshalb sie keine Lust mehr habe, sich zu den "Woken" zu zählen. Sie kam zu spät zu einem Termin und bat mit dem Satz "Entschuldigt bitte, mein Zeitgefühl ist eher mediterran" um Nachsicht. Daraufhin wies sie ein weißer Deutscher zurecht: "Wieso Mittelmeer? Du kommst aus Schwaben! Es ist rassistisch, deine Herkunft auf die deiner Eltern festzulegen." Marinić, deren Familie aus Dalmatien kommt, stellte fest: Der Mann meint, ihr erklären zu müssen, woher sie zu kommen habe und wann sie selbst zu sich rassistisch ist. Nervig. Allerdings: Klugscheißer gab es auch schon immer. (Beate Hausbichler, 9.1.2023)