Die aktuellen Medikamentengpässe haben unterschiedliche Ursachen: "Es sind teilweise Wirkstoffe, aber auch notwendige Verpackungsstoffe nur eingeschränkt verfügbar", erklärt Arzneimarktanalyst Stefan Baumgartner-Bisschoff.

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Die aktuelle Liste reicht von A wie Amoxistad, einem Penicillin, das beispielsweise bei bakteriellen Infektionen an verschiedenen Stellen des Körpers verschrieben wird, über Fraxiparin-Fertigspritzen gegen Thrombosen, Nureflex gegen Erkältungskrankheiten bei Kindern und Sultanol, eine bei Atemwegserkrankungen wie Asthma verwendete Inhalationslösung, sowie Fentanyl-Pflaster gegen Schmerzen bis Z wie Zovirax, eine Creme, die gegen Fieberblasen zum Einsatz kommt: Diese und 565 weitere Arzneimittel, nämlich insgesamt 572, waren mit Stand Sonntag, 8. Jänner, in Österreich nicht oder nur eingeschränkt verfügbar.

Diese Daten über "Vertriebseinheiten von Arzneispezialitäten" listet das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) auf einer Website tagesaktuell auf. Inklusive der jeweiligen Gründe für den aktuellen Versorgungsmangel wie zum Beispiel erhöhter Mehrbedarf oder Kapazitätsengpässe sowie Verzögerungen bei der Herstellung oder in der Auslieferung.

Das ist einer der Aspekte, die das vergangene Jahr im Gesundheitsbereich am stärksten geprägt haben. Was hat sich in diesem Segment noch getan? Zumal sich aus dem Medikamentenverbrauch auch viel über die Gesamtverfassung der Gesellschaft ablesen lässt.

DER STANDARD nahm auch heuer – wie im ersten und zweiten Pandemiejahr – mit Stefan Baumgartner-Bisschoff, dem General Manager von IQVIA Austria, die Verkaufsdaten der österreichischen Apotheken aus dem Jahr 2022 genauer unter die Lupe, um etwaige Trends oder Tendenzen zu sehen.

IQVIA ist ein global tätiges Consultingunternehmen, das hierzulande alle Arzneimittelverkäufe in Spitälern sowie öffentlichen Apotheken und ärztlichen Hausapotheken (ohne Online-Versandhandel für rezeptfreie Produkte) dokumentiert. Das Unternehmen beschäftigt rund 80.000 Mitarbeitende in über 100 Ländern und arbeitet als Anbieter von Daten, Beratungs- und IT-Leistungen sowie klinischer Auftragsforschung mit der pharmazeutischen Industrie, aber auch mit Forschenden, Patientenvereinigungen und öffentlichen Einrichtungen.

Fünf Trends lassen sich aus den IQVIA-Analysen für 2022 ableiten:

  • Haben wir gerade nicht! Eine der nachhaltigsten Folgen der Pandemie seien, wie auch DER STANDARD mehrfach (z. B. hier und hier) berichtete, "fortwährende Lieferschwierigkeiten in vielen Bereichen", erklärt Baumgartner-Bisschoff. Im verschreibungspflichtigen wie rezeptfreien Bereich. "Es sind teilweise Wirkstoffe, aber auch notwendige Verpackungsstoffe nur eingeschränkt verfügbar." Als Folge davon fehlen manchmal bestimmte Packungsgrößen, andere Produkte sind insgesamt nur eingeschränkt verfügbar. Die laut BASG aktuell 572 betroffenen Arzneien auf der Mangelliste sind laut dem IQVIA-Österreich-Chef "im oberen Drittel im europäischen Vergleich".

  • Die schlaflose, unruhige Nation Corona und die anderen Krisen – vom Ukraine-Krieg über die allgemeine Teuerung bis zur Energiekrise – rauben vielen Österreicherinnen und Österreichern den Schlaf, lässt sich aus den IQVIA-Analysen schlussfolgern. "Die entsprechende rezeptfreie Kategorie der Beruhigungs- und Schlafmittel inklusive Stimmungsaufheller ist nämlich die einzige, die bereits das dritte Jahr in Folge ein zweistelliges Wachstum verbuchen kann", erklärt der Pharmaexperte. In keiner anderen OTC-Klasse gebe es mehr neue Produkte. OTC meint alle rezeptfreien Arzneien, die "over the counter", also ohne Verschreibung über die Apothekentheke verkauft werden dürfen. Knapp 170 Neueinführungen, die für besseren Schlaf oder ruhigere Tage sorgen sollen, wurden in den vergangenen zwei Jahren eingeführt.

  • Das verschnupfte Land Aus Sicht der Apotheken war das erste Jahr der Pandemie zumindest mit Blick auf rezeptfreie Husten- und Erkältungsmittel ein schlechtes Geschäftsjahr. Denn durch die Corona-Maßnahmen – Masken, Handhygiene, Abstandhalten – wurden auch die klassischen Erkältungsviren wirksam ausgebremst. Mitte 2021 ließ diese gesundheitsfördernde Disziplin bei vielen Menschen wieder nach, die verkauften Erkältungsmittel zogen an – und "legten in den vergangenen Monaten einen wahren Höhenflug hin", sagt der IQVIA-Manager mit Blick auf 2022.

    Alle Produkte aus dem "Erkältungssegment" der Apotheken, also Halsschmerzmittel, Hustenlöser und Schnupfenmittel, "zählen zu den Top-Wachstumskategorien".Auffällig bei der Entwicklungskurve sei der "hohe Peak im März 2022", sagt Baumgartner-Bisschoff. Erklärung dafür: "Zu diesem Zeitpunkt gab es viele Erkrankungen mit der Coronavirus-Variante Omikron, die mit heftigen Erkältungssymptomen wie starken Halsschmerzen einherging." (siehe Grafik)
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  • Schmerz, lass nach! Das größte Mengenwachstum entfiel im vergangenen Jahr auf das Medikament Ibuprofen, das zur Behandlung von Schmerzen, Entzündungen und Fieber eingesetzt wird. Sehr häufig nachgefragt waren außerdem der ebenfalls entzündungshemmende, schmerzstillende und antibakterielle Wirkstoff Benzydamin, der gegen Halsschmerzen verwendet wird, sowie Oxymetazolin, das zum Abschwellen der Nasenschleimhaut zum Einsatz kommt.

  • Das große Bestellen Was auch in anderen Lebensbereichen immer mehr zunimmt, zeigt sich auch im pharmazeutischen Bereich: Der Onlinehandel trendet. Ebenfalls eine Folge der Pandemie, sagt Baumgartner-Bisschoff: "Die Konsumentinnen und Konsumenten suchen zugängliche, praktische und leicht anwendbare Möglichkeiten zur Selbstmedikation für zu Hause." Lag der Versandhandelsanteil für rezeptfreie Medikamente im Jahr 2019 vor der Pandemie noch bei elf Prozent, stieg er laut einer IQVIA-Studie 2020 auf über 15 Prozent. Dass es 2021 leicht knapp unter 15 Prozent waren, führt IQVIA auf die österreichische Corona-Teststrategie zurück, die den Apotheken mehr Besuchsfrequenz bescherte – abzulesen daran, dass 2021 im Vergleich zum Vorjahr um etwa ein Drittel mehr Verkaufsbons in den Apotheken registriert wurden. (Lisa Nimmervoll, 9.1.2023)