Gebannt blickte die Welt am Sonntag nach Brasilien, wo Anhängerinnen und Anhänger des rechtsextremen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro das Regierungsviertel der Hauptstadt Brasília stürmten. Mehr als 200 Menschen wurden festgenommen, der erst seit einer Woche amtierende Präsident Luis Inácio Lula da Silva versprach, die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Der Wiener WU-Professor und Brasilien-Experte Andreas Novy schätzt im Gespräch mit dem STANDARD, dass der Linke Lula mittelfristig sogar von dem Aufstand profitieren könnte.

STANDARD: Was will der Mob, der am Sonntag das brasilianische Regierungsviertel gestürmt hat?

Novy: Zum einen will man das Wahlergebnis und den Sieg Lulas nicht akzeptieren, zum anderen, und das ist das tieferliegende Motiv, gibt es in Brasilien eine reaktionäre Minderheit, die einen radikalen Systemwechsel will. In deren Diskurs werden die Institutionen des demokratischen Rechtsstaats als "Establishment" denunziert. Deshalb ist der gestrige Angriff auch auf den Obersten Gerichtshof für diesen Wunsch nach so einem Systemwechsel durchaus symptomatisch.

Allgegenwärtige Fußballtrikots und die Nationalfahne: Bolsonaro-Fans stürmten das brasilianische Regierungsviertel.
Foto: Sergio Lima / AFP

STANDARD: Wie organisiert waren die Randale?

Novy: Da muss man sehr vorsichtig sein, weil Bezeichnungen wie "Mob" oder "Terroristen" dazu führen, dass man die Unterstützung dieser Gruppen in anerkannten Kreisen unterschätzt. Das Doppelspiel, das Bolsonaro nun vier Jahre lang gespielt hat, also gleichzeitig Präsident zu sein und sich als Anti-Establishment-Politiker zu inszenieren, gilt genauso für einen Teil der Unternehmerschaft in Brasilien, die ihn mit hohen Mitteln unterstützt haben. Diese Unternehmer gehören sicherlich nicht zu den Entrechteten im Land, haben aber trotzdem einen ausgeprägten Hass auf den Rechtsstaat entwickelt. Der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, Alexandre de Moraes, ist schon seit langem eines der zentralen Feinbilder dieser Leute. Die Ausschreitungen vom Wochenende waren daher sicherlich keine Überraschung. Wenn sich Bolsonaro jetzt davon distanziert, ist das wieder das alte Spiel: Einerseits gießt er Öl ins Feuer, will dann aber nichts damit zu tun haben.

WU-Professor Andreas Novy: "Das wirklich Besorgniserregende ist die neue Dimension der rechten Internationalen, mit der wir es hier zu tun haben."
Foto: WU Wien

STANDARD: Lula will die Drahtzieher bestrafen. Wen orten sie hinter den Ausschreitungen?

Novy: Wer Bolsonaro und die rechten Medien finanziert, ist lange bekannt, vor allem einige Unternehmer, die mit der Großlandwirtschaft verbunden sind, die also ganz handfeste Interessen an laxen Umweltgesetzen und an der Rodung des Regenwaldes haben. Das wirklich Besorgniserregende ist die neue Dimension der rechten Internationalen, mit der wir es hier zu tun haben. Die Diskurse, Zielsetzungen und Gegner sind heute global weitgehend vereinheitlicht. Das alte Rechts-links-Bild gilt da nicht mehr viel, denn natürlich ist Bolsonaro ein Gegner der Linken, sein eigentliches Angriffsziel ist aber der liberale Rechtsstaat. Mit seiner knappen Wahlniederlage ist sein Projekt, etwa den Obersten Gerichtshof umzufärben, nun ins Stocken geraten. Hätte er gewonnen, gäbe es nun vielleicht ein Szenario ähnlich wie in der Türkei, wo es nach der Gleichschaltung von Polizei, Armee und Justiz kaum mehr eine Opposition gibt, die auch Wahlen gewinnen kann.

STANDARD: Warum waren die Sicherheitskräfte so überfordert?

Novy: In Brasilien ist die Polizei im Wesentlichen Kompetenz der Bundesstaaten. Der Gouverneur des Distrito Federal, also des Hauptstadt-Bundestaats Brasília, ist ein "Bolsonarista" und hat einen ausdrücklichen Sympathisanten Bolsonaros zum Innenminister gemacht. Dass sehr wohlwollend mit den Demonstranten umgegangen wurde, ist nicht Zufall, sondern Absicht. Es gibt ja viele Videos, in denen der sympathisierende Umgang einiger Polizisten mit den Demonstrierenden zu sehen ist. Gleichzeitig war der zuständige Innenminister, also jener Mann, der Befehle erteilen kann, gerade auf Urlaub bei Bolsonaro in Florida und war am Nachmittag, als die Situation eskalierte, nicht erreichbar.

Bolsonaro (li.) urlaubt derweil in Florida – nahe Donald Trump.
Foto: Cristiano Piquet/via REUTERS

STANDARD: Wie fest sitzt Lula im Sattel?

Novy: Meiner Meinung nach stärken die Unruhen die Position von Lula, dessen Botschaft ja immer war, dass es sich um einen Kampf gegen den Autoritarismus handelt. Genauso, wie Bolsonaro eher ein Reaktionärer ist als ein Konservativer, ist Lula mehr als ein linker Kandidat, weil er ja für seinen Sieg überraschend viele Stimmen von Liberalen und Konservativen aus der Mittelschicht bekommen hat, die ihn gegenüber Bolsonaro schlicht für das kleinere Übel gehalten haben. Diese sitzen nun zum Teil auch in der Regierung, etwa sind zwei der vier Minister, die für Wirtschaft zuständig sind, eher konservativ. Daher hat es Lula geschafft, auch innerhalb der gemäßigten Konservativen einen übergreifenden Konsens zu erzeugen, dass es in Brasilien um die Demokratie und den Rechtsstaat geht.

Erst vor einer Woche hat Präsident Lula sein Amt angetreten – nun sah er sich einem Aufstand gegenüber.
Foto: VARISTO SA / AFP

STANDARD: Wird das Militär weiter stillhalten?

Novy: Ja, weil man dort kein Risiko eingehen will. Das Militär bleibt aber eine problematische Institution, weil während der Bolsonaro-Jahre viele aus seinen Reihen hohe zivile Positionen innehatten, die sie nun ungern aufgeben.

STANDARD: Was kann Lula tun, um die Lage zu stabilisieren?

Novy: Es würde wohl ausreichen, die Randalierer und die Drahtzieher hinter den Unruhen zu verurteilen. Dazu gibt es durchaus eine gewisse Bereitschaft, weil Staatsanwaltschaft, Oberster Gerichtshof und Justizministerium hier weitgehend die gleiche Sichtweise teilen. Es ist der Justiz durchaus bewusst, dass sie selber Zielscheibe der Aufständischen ist. Ich würde meinen, dass die Unruhen im besten der Fälle zu mehr Klarheit führen und der brasilianische Rechtsstaat am Ende sogar gestärkt wird. (Florian Niederndorfer, 9.1.2023)