Die Protestierenden wurden auf sozialen Medien angefeuert.

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Am Sonntag gingen Bilder aus Brasilien um die Welt, die an den Angriff auf das US-Kapitol am 6. Jänner 2021 erinnern. Tausende Anhängerinnen und Anhänger des abgewählten Präsidenten Jair Bolsonaro stürmten und verwüsteten den Kongress, den Obersten Gerichtshof und den Präsidentenpalast in der Hauptstadt Brasília. Die Angreifer erkennen den Wahlsieg des linksgerichteten Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva nicht an.

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DER STANDARD

Erste Anzeichen, dass es zu einer solchen Eskalation kommen könnte, gibt es offenbar seit Wochen. Wie die "Washington Post" unter Berufung auf brasilianische Forschende berichtet, kam es auf sozialen Medien vermehrt zu Gewaltaufrufen und der Forderung, an einer "Kriegsschrei-Party" in Brasília teilzunehmen.

Organisierte Transporte

Die Organisation und Mobilisierung fand laut den Berichterstattern auch auf Telegram statt. Dort seien die Abfahrtszeiten und Routen für sogenannte Liberty-Caravans zu finden gewesen, also Busrouten, die Demonstrierende aus mehreren Bundesstaaten abholen und in die Hauptstadt kutschieren sollten. Zielgruppe waren offenbar selbsternannte Patrioten. "Achtung Patrioten! Wir organisieren tausend Busse. Wir brauchen zwei Millionen Menschen in Brasília", heißt es in einem von der US-Zeitung veröffentlichten Posting.

Im Laufe des Sonntags tauchten laut dem "Wall Street Journal" außerdem eine Reihe von Videos und Bildern auf Instagram, Facebook und Tiktok auf, die die Proteste weiter anfeuerten. Häufig zu sehen sei hier ein offenbar verwundeter Demonstrant gewesen, der Gleichgesinnte dazu aufforderte, nicht aufzugeben. Ein Livestream aus dem Inneren des brasilianischen Kongresses sammelte laut den Berichterstattern mehr als eine Million Zuseher und 60.000 Likes.

Gleichzeitig seien in einer Facebook-Gruppe mit 1,5 Millionen Mitgliedern Aufnahmen des Angriffs geteilt worden, berichtet das "Wall Street Journal". Eines der Videos habe den Titel "Lula wird fallen" getragen. Ein Meta-Sprecher bestätigte gegenüber der Zeitung, dass man die Situation aktiv beobachte und Inhalte entferne, die gegen die Richtlinien der Plattform verstießen.

Zweifel am Wahlsystem

Ex-Präsident Bolsonaro hat Lulas Wahlsieg im Oktober offiziell nie anerkannt. Auch an der Amtsübergabe zum Jahreswechsel nahm er nicht teil. Stattdessen verließ der Ex-Präsident das Land in Richtung USA und äußerte Zweifel am Wahlsystem.

Es dauerte damals nicht lange, bis Desinformation zum Wahlausgang auf sozialen Medien auftauchte. Auf Portugiesisch sei unter anderem der Aufruf "Stop the Steal" verbreitet worden, berichtet die "Washington Post". Dabei handelt es sich um eine der Parolen, mit denen Rechtsradikale und Konservative die Legitimität der US-Präsidentschaftswahl 2020 anzweifelten. Zentral waren damals haltlose Vorwürfe des Wahlbetrugs, der Donald Trump die Präsidentschaft gekostet habe.

Twitter ohne Moderation

Laut der Zeitung würden rechte Influencer das Wahlbetrug-Narrativ auch heute noch auf Twitter verbreiten. Im Rahmen der Sparmaßnahmen von Elon Musk hat der Kurznachrichtendienst fast die gesamte Belegschaft in Brasilien gefeuert. Darunter auch Inhaltsmoderatoren, die sich normalerweise um Desinformation und Gewaltaufrufe kümmern.

Auch dem Sturm auf das US-Kapitol im Jänner 2021 gingen Gewaltaufrufe auf Social Media voraus. Zwar wurde dieser auch auf Twitter, Facebook und Co besprochen – was eine Sperre Donald Trumps nach sich zog –, allerdings waren insbesondere alternative Plattformen von Bedeutung. Unter ihnen die rechten Twitter-Alternativen Parler und Gab, aber auch der Games-Streamingdienst DLive. Eine vergleichbare Bandbreite unterschiedlicher Plattformen scheint es in Brasilien nicht zu geben. Mittlerweile wurden dort rund 230 Menschen verhaftet. (red, 9.1.2023)