Israels neuer Premier Benjamin Netanjahu sei nicht nur bereit, die rechtsstaatliche Demokratie über Bord zu werfen, sagt Bini Guttmann, Mitglied des Exekutivrats des World Jewish Congress, im Gastkommentar, sondern auch die Raison d’Être Israels.

Tausende Menschen protestierten am Wochenende in Tel Aviv gegen seine Regierung: Benjamin Netanjahu ist zum sechsten Mal Premier, diesmal stützt ihn ein extrem rechtes Bündnis.
Foto: Reuters / Amir Cohen

Für uns als Juden und Jüdinnen in der Diaspora war Israel niemals nur ein weiteres spannungsgeladenes Land im Nahen Osten mit schönem Wetter und dem besten Essen. Für viele von uns war Israel der erste Ort, an dem wir unser Judentum, einen zentralen Teil unserer Identität, frei leben konnten: ohne Angst vor Antisemitismus und als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft.

Das ist kein Zufall, denn Israel wurde als Heimat für alle Juden und Jüdinnen gegründet. Genau deshalb bin auch ich Zionist. Mit meinem Aktivismus stelle ich mich seit Jahren den Feindinnen und Feinden Israels entgegen. Denn wie für drei Viertel aller jungen Juden und Jüdinnen in der EU nimmt Israel eine zentrale Rolle in meiner jüdischen Identität ein.

Fatale Konsequenzen

Doch ich wurde auch Zionist, gerade weil Israel nicht nur ein jüdischer Staat ist. Israel ist ein demokratischer Staat, gegründet aus der Asche der Shoah, auf der "völligen Gleichheit der sozialen und politischen Rechte aller Einwohner, ungeachtet ihrer Religion, ihrer Ethnie oder ihres Geschlechts". So wurde Israel zu einem – zweifelsfrei nicht perfekten – humanistischen Leuchtturm in einer stürmischen Region. Doch genau dieses Israel droht nun für immer zu verschwinden. Mit fatalen Konsequenzen für Palästinenserinnen und Palästinenser, Frauen und Minderheiten in Israel und uns, als Juden und Jüdinnen in der Diaspora.

"Die neue Koalition hat buchstäblich ein Gruselkabinett gegründet."

Unlängst wurde die rechteste und religiöseste Regierung der israelischen Geschichte angelobt. Die neue Koalition, angeführt vom rechtskonservativen Likud Benjamin Netanjahus, gemeinsam mit zwei ultraorthodoxen Parteien und dem rechtsextremen Wahlbündnis "Religiöser Zionismus" hat buchstäblich ein Gruselkabinett gegründet.

Da ist Bezalel Smotrich, der 2005 für drei Wochen wegen Terrorverdachts in Haft war, sich für die Trennung von jüdischen und arabischen Müttern in Entbindungsstationen aussprach und sich für die vollständige Annexion der Westbank einsetzt. Er ist nicht nur neuer Finanzminister, sondern mit einer neu geschaffenen Rolle im Verteidigungsministerium zusätzlich de facto Premierminister der besetzten Gebiete.

Noch radikaler ist der Kahanist Itamar Ben-Gvir, der als neuer Minister für Nationale Sicherheit – anders als seine Vorgänger – das operative Vorgehen der Polizei und der Grenzpolizei in der Westbank bestimmen kann. Er wurde wegen rassistischer Hetze und Terrorunterstützung verurteilt, war der Armee einst zu radikal und kann ethnischen Säuberungen etwas abgewinnen.

Dritter im Bunde ist Avi Maoz von der homosexuellenfeindlichen und rassistischen Noam-Partei. Er ist in einem neu geschaffenen Vizeministerposten für Curricula an Schulen verantwortlich und fordert das Verbot von Pride-Paraden, die Legalisierung sogenannter Konversionstherapien und zunehmende Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum.

"Zentral ist, die unabhängige Justiz auszuhebeln."

Das Koalitionsprogramm zeigt, dass Israel bis zur Unkenntlichkeit verändert werden soll. Zentral ist dabei, die unabhängige Justiz auszuhebeln. Das Parlament soll mit einfacher Mehrheit das Oberste Gericht überstimmen können, das Gericht selbst soll politisch besetzt werden. Doch damit nicht genug. Die neue Regierung will die Todesstrafe für Terroristen einführen, angeblich ist auch eine Annexion der Westbank bereits beschlossene Sache.

Vorgesehen ist auch, dass von nun an Veranstaltungen, auf denen religiöse Geschlechtertrennung herrscht, mit Steuergeldern subventioniert werden können, Teile der Regierung fordern ein Verbot der Jerusalemer Pride-Parade. Legalisiert werden soll jedoch, dass Dienstleister – inklusive Ärztinnen und Ärzte – aus "religiösen Motiven" Menschen aus der LGBTQ+-Gemeinschaft ablehnen können.

Gefährliche Provokation

Was davon tatsächlich umgesetzt wird, ist natürlich noch vollkommen unklar. Dass leider vieles davon ernst genommen werden muss, zeigt die erste Woche im Amt. Der erste Amtsbesuch führte den faschistischen Sicherheitsminister Ben-Gvir auf den Tempelberg – in diesem Kontext eine gefährliche Provokation. Außerdem wurde ein Gesetz beschlossen, das es dem Chef der ultraorthodoxen Shas-Partei, Aryeh Deri, ermöglicht, Minister zu werden, trotz aufrechter Bewährungsstrafe wegen Steuerhinterziehung. Möglich ist all das, weil Netanjahu beschlossen hat, dass sein eigener Machterhalt wichtiger ist als die israelische Demokratie. Hauptzweck des Bündnisses ist für ihn die Verabschiedung eines Gesetzes, das ihm Immunität vor seinen diversen Anklagen wegen Korruption sichert.

"Netanjahu ist nicht nur bereit, die rechtsstaatliche Demokratie über Bord zu werfen."

Um weiterer strafrechtlicher Verfolgung zu entgehen, ist Netanjahu nicht nur bereit, die rechtsstaatliche Demokratie über Bord zu werfen, sondern auch die Raison d’Être Israels. Nach mehr als 2.000 Jahren Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung gab es mit der Staatsgründung Israels erstmals einen Zufluchtsort für alle als jüdisch verfolgten Menschen weltweit. Derzeit dürfen alle, die zumindest ein jüdisches Großelternteil haben – also alle, die von den Nazis als jüdisch verfolgt wurden –, einwandern. In ihrem Streben nach ethnischer "Reinheit" wollen Smotrich und Ben-Gvir das ändern. So, dass nur noch jene, die nach den orthodoxen Religionsgesetzen jüdisch sind, einwandern dürfen. Auch nichtorthodoxe Konversionen wollen sie nicht mehr anerkennen. Dabei ist die Mehrheit der jüdischen Menschen in der Diaspora nicht orthodox. Passiert dies, verliert Israel seinen Existenzzweck als sicherer Hafen für alle Opfer von Antisemitismus. Eine katastrophale und potenziell lebensbedrohliche Entscheidung für uns.

Moderne Wunder

Die Gründung und Entwicklung Israels in den letzten 75 Jahren ist voller überkommener Unwägbarkeiten und gespickt mit modernen Wundern. Insofern besteht vielleicht noch Hoffnung für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Andernfalls droht das Israel, mit dem wir uns identifiziert haben, verloren zu gehen und das Licht im Leuchtturm für immer zu erlöschen. (Bini Guttmann, 10.1.2023)