Der vom Aussterben bedrohte Verreaux-Sifaka ist eine der 109 Lemurenarten, die derzeit auf Madagaskar vorkommen. Insgesamt 17 Lemurenarten sind bereits ausgestorben.
Foto: Chien C. Lee

Von einzigartigen Affenbrotbaumarten bis hin zu Lemuren – die Insel Madagaskar ist einer der weltweit wichtigsten Hotspots der biologischen Vielfalt. Etwa 90 Prozent der Pflanzen- und Tierarten sind nirgendwo sonst zu finden. Nach der Besiedlung der Insel durch den Menschen vor 2.500 Jahren starben auf Madagaskar zwar viele Arten aus, darunter Riesenlemuren, Elefantenvögel und Zwergflusspferde. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Inseln ist die Fauna Madagaskars noch relativ intakt.

Rund eine Million Tier- und Pflanzenarten drohen zu verschwinden. Sterben sie aus, wird es auch für uns ungemütlich. Warum das so ist, wie der Mensch das Artensterben vorantreibt und wie es sich aufhalten lässt.
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Einzigartige Säugetierspezies

Mehr als zweihundert Säugetierarten leben noch auf der Insel, darunter so einzigartige Spezies wie die Fossa (auch Frettkatze genannt) und der Katta (eine Lemurenart mit Ringelschwanz). Alarmierenderweise ist mehr als die Hälfte dieser Arten vom Aussterben bedroht, was in erster Linie auf den menschlichen Einfluss zurückzuführen ist.

Was aber steht auf dem Spiel, wenn die Umweltveränderungen durch den Menschen so weitergehen wie bisher?

Ein Team von Biologinnen und Paläontologen aus Europa, Madagaskar und den USA suchte Antworten auf diese Frage, indem es einen beispiellosen neuen Datensatz erstellt hat, der die evolutionären Beziehungen aller Säugetierarten beschreibt, die zu der Zeit auf Madagaskar lebten, als der Mensch die Insel kolonisierte. Der Datensatz umfasst sowohl Arten, die bereits ausgestorben und nur noch aus Fossilien bekannt sind, als auch alle lebenden madagassischen Säugetierarten.

Ein Eigentlicher Streifentenrek, eine Spezies aus der Familie der Tenreks – eine einzigartige Gruppe von Säugetieren, die nur auf Madagaskar vorkommt.
Foto: Chien C. Lee

30 ausgestorbene Arten

Das Team unter der Leitung von Luis Valente (Uni Groningen) identifizierte insgesamt 249 Arten, von denen 30 bereits ausgestorben sind. Mehr als 120 der 219 Säugetierarten, die heute noch auf der Insel leben, werden von der Roten Liste der IUCN als vom Aussterben bedroht eingestuft, was auf die Zerstörung von Lebensräumen, den Klimawandel und die Jagd zurückzuführen ist.

Mithilfe eines Computersimulationsmodells fand das Team heraus, dass es etwa drei Millionen Jahre dauern würde, um die Zahl der Säugetierarten wiederherzustellen, die seit der Ankunft des Menschen auf Madagaskar verlorengegangen sind. Wenn jedoch die derzeit bedrohten Arten aussterben, würde es viel länger dauern: Nicht weniger als 23 Millionen Jahre Evolution wären nötig, um die gleiche Anzahl von Arten wiederherzustellen. Allein in den letzten zehn Jahren hat sich diese Zahl um mehrere Millionen Jahre erhöht, da der Einfluss des Menschen auf die Insel zunimmt.

Brauner Mauslemur, eine der 104 Lemurenarten, die derzeit vom Aussterben bedroht sind.
Foto: Chien C. Lee

Aussterbewelle steht bevor

Die enorme Zeitspanne, die für die Wiederherstellung dieser Vielfalt benötigt wird, hat die Wissenschafter überrascht: "Es ist viel länger als das, was frühere Studien auf anderen Inseln wie Neuseeland oder der Karibik festgestellt haben", sagt Luis Valente. Die Ergebnisse dieser neuen Studie, die in der Fachzeitschrift "Nature Communications" veröffentlicht wurden, deuten darauf hin, dass auf Madagaskar eine Aussterbewelle mit tiefgreifenden Auswirkungen auf die Evolution droht, wenn nicht sofortige Schutzmaßnahmen ergriffen werden.

Die Madagaskar-Saugfußfledermaus gehört zu einer uralten Familie von Fledermäusen, die ebenfalls nur auf Madagaskar vorkommt.
Foto: Chien C. Lee

Die Studie zeigt jedoch, dass mit angemessenen Schutzmaßnahmen noch über 20 Millionen Jahre einzigartiger Evolutionsgeschichte auf der Insel bewahrt werden können. In den Worten von Valente: "Es war bereits bekannt, dass Madagaskar ein Hotspot der biologischen Vielfalt ist. Aber diese neue Studie macht deutlich, wie wertvoll diese Vielfalt ist. Diese Ergebnisse unterstreichen den potenziellen Nutzen des Naturschutzes auf Madagaskar aus einer neuen evolutionären Perspektive." (Klaus Taschwer, 11.1.2023)