Georg Koenne, Geschäftsführer des Vereins Österreichisches Zentrum für Psychologische Gesundheitsförderung im Schulbereich, kritisiert in seinem Gastkommentar die bürokratischen Hürden im Schulalltag. Lesen Sie dazu auch den Beitrag "Geht's der Wirtschaft gut, geht's der Schule gut?" von Paul Reinbacher.

Auch wenn es ein wenig reißerisch klingen mag: Wir haben ein Problem mit empathischer Menschlichkeit in der Gesellschaft. Die multiplen Krisen – Corona, Ukraine, Energie, Inflation – haben verstärkt zu einer Entsolidarisierung beigetragen. Und da Schule nun einmal eine Abbildung der Gesellschaft ist, schlägt dies auch dort ein.

Wie wir aus wissenschaftlichen Studien wissen, finden sich bereits bei Kindern und Jugendlichen vermehrt Symptome von Ängstlichkeit, Depressivität, Aufmerksamkeits-, Schlaf- und Essstörungen sowie tiefergreifender Demotivation. Diese Entwicklungen hatten und haben massive Auswirkungen auf das gesunde Heranwachsen. Daher braucht es einen geschärften Blick für die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen. Und hier wird es schwierig!

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Bürokratische Lösungen sind nicht immer die besten für Kinder und Jugendliche. Da braucht es oft mehr Fingerspitzengefühl.
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Die "einfache" Antwort wäre, mehr psychosoziales Unterstützungspersonal an und für Schulen zur Verfügung zu stellen. Das allein wird aber nicht reichen. Und zwar nicht nur, weil es davon rein zahlenmäßig noch immer viel zu wenig gibt. So sind in Österreich bei 1,1 Millionen Schülerinnen und Schülern gerade einmal 200 Planstellen Schulpsychologie sowie 220 Planstellen Schulsozialarbeit im Einsatz. Hier angeführt sind die durch den Bund (mit)finanzierten Stellen, die Bundesländer setzen teilweise weiterhin lokale Maßnahmen. Die konstruktiven Bemühungen der Politik um einen Ausbau im Rahmen von neuen Bestimmungen im Finanzausgleichsgesetz sollen hier keinesfalls verschwiegen und gebührend lobend erwähnt werden!

Einige Beispiele

Das Problem liegt tiefer, und zwar in der kalten und entmenschlichten Bürokratie. Hier einige reale Beispiele, was ich damit meine: Eine Wiener Volksschule wurde von einer Halbtagsschule auf eine Ganztagsschule umgestellt. Die Umstellung erfolgte allerdings nicht für die dritten und vierten Klassen, diese werden weiterhin als Halbtagsklassen geführt, was auch dem Wunsch der meisten Eltern entspricht.

So weit, so gut, aber: Der Magistrat sieht bei einer Umstellung einer Schule von Halbtag auf Ganztag die sofortige Schließung des dazugehörigen städtischen Horts vor. Was am Papier logisch klingen mag, hat in der Realität ein rein bürokratisches Gesicht: Den Kindern der dritten und vierten Klassen wurde in einer so wichtigen Entwicklungsphase der gewohnte und geliebte Hort weggenommen. Der Verweis der Bürokratie, dass es genug andere, private Hortplätze in der Umgebung gebe, ist exakt diese Unmenschlichkeit im System: Als ob ein Hortplatz für ein acht- bis zehnjähriges Kind einfach ein auszutauschender "Verwahrungsplatz" wäre und nicht mit der Entwicklung und Festigung der Beziehungsfähigkeit und des Vertrauens in die Umgebung verbunden ist.

"Im Vordergrund muss das individuelle und menschliche Wohl der Betroffenen stehen."

Ein anderes Beispiel: Eine kooperative Schulgemeinschaft einer Volksschule und einer Mittelschule führt zu einem Schulmodell, in dem es keine für die Kinder merkbare Schnittstelle zwischen der vierten und fünften Schulstufe gibt: gleiches Gebäude, gleiche Mitschülerinnen und Mitschüler. Diese Schule hat zusätzlich noch einen integrativen Schwerpunkt, es gehen also mehrere Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen in diese Schule. Für diese gibt es eine gestützte Nachmittagsbetreuung. Und jetzt schlägt wieder die Bürokratie zu: Vier Integrationskinder unterschiedlichen Alters wurden in einer Gruppe gemeinsam am Nachmittag betreut. Eines dieser Kinder ist gerade von der vierten Schulstufe (Volksschule) in die fünfte Schulstufe (Mittelschule) gewechselt, was eben in diesem Schulmodell für die Kinder kein merklicher Übergang ist. Da aber die Fördermodelle für die Nachmittagsbetreuung an den Schulformen hängen, war die Situation plötzlich folgende: ein Kind in der Mittelschule, drei Kinder in der Volksschule. Beide Gruppengrößen sind zu gering für eine zusätzliche Förderung, daher wurde die integrative Nachmittagsbetreuung eingestellt!

Aufgeteilt statt gemeinsam

Die Kinder sollen aufgeteilt auf andere Standorte mit größeren Gruppen den Nachmittag verbringen. Und das, obwohl alle vier Kinder noch immer physisch im gleichen Gebäude in der Schule sind, einander kennen und Freundschaften geschlossen haben.

Was also tun? Bürokratie ist kein Selbstzweck! Es braucht eine Umkehrung der Prioritäten: Nicht mehr die Vorschrift als solche darf im Vordergrund stehen, sie sollte ausschließlich als gut gemeinte Richtlinie, als Rahmenvorgabe gelten. Im Vordergrund bei jeder Entscheidung des verwaltenden Staates muss das individuelle und menschliche Wohl der Betroffenen stehen, auch wenn dafür Regeln – nun ja – etwas kreativ ausgelegt werden müssen.

Diese Umkehr vom technisch-bürokratischen Verwalten hin zu einer menschlich-empathischen Verwaltung hätte auch noch einen weiteren, entscheidenden Vorteil: Die Kinder würden erleben, dass die Gesellschaft tatsächlich an ihren Sorgen und Problemen Anteil nimmt. Allein das könnte so viele Wunden heilen. (Georg Koenne, 11.1.2023)