Die Krisensituation verlockt manche dazu, den Stab über das zeitgenössische Theater zu brechen.

Illustration: Fatih Aydogdu

Das Interesse am Theater ist so groß wie selten in den letzten Jahren. Echt? Ja! Dies schlägt sich allerdings nicht in den Publikumszahlen nieder, sondern in den (sozial-)medial geführten Debatten über den aktuellen Zustand dieser Kunstsparte. Die Pandemie hat das Theater wie viele andere Bereiche arg in Mitleidenschaft gezogen – Stichwort Publikumsschwund. Es steht im Eck, ist in der Defensive. Insbesondere jene Stimmen wittern nun Morgenluft, die schon länger Dünkel gegenüber den Entwicklungen der zeitgenössischen Bühnenkunst hegen.

Ein irritierender, manchmal erschreckend abfälliger, immer polemischer Diskurs bricht sich derzeit Bahn über die Frage, was Theater (künftig) sein soll, vor allem aber darüber, wie falsch oder gar schädlich der eingeschlagene Weg sei. Die aktuelle Krise wird somit zum Katalysator einer Diskussion über Werthaltungen und Meinungen, eine Diskussion, die an sich begrüßenswert ist, würde sie nicht von populistischen Phrasen dominiert werden, deren Gehalt entweder jeder Grundlage entbehrt oder zumindest fragwürdig bleibt.

Reaktionär-verträumt

Theater ist ein Ort der moralischen und politischen Bildung, oder weniger hochtrabend: der Auseinandersetzung, und folglich ein Markt der Deutungen. Dieser ist immer dann heiß umkämpft, wenn sich gesellschaftspolitische Prozesse und Änderungen auf Spielplänen, auf den Bühnen und im Diskurs darüber niederschlagen. Theater gibt derzeit also mehr denn je den Schauplatz eines Kulturkampfs ab, auf dem sich aufgeschlossen-veränderungswillige Positionen mit reaktionär-verträumten matchen.

Es gab für die Bürger und Bürgerinnen in den letzten Jahren auch wahrlich viel zu lernen über die eigene Weltsicht. Das Ringen um die Meinungshoheit verschärft sich deshalb besonders, seit es MeToo und das Gendersternchen gibt, seit die Debatte um Geschlechtsidentität eine breite Öffentlichkeit erreicht hat, seit sich jeder und jede über den hauseigenen Rassismus und die Kolonialschuld oder daraus abgeleitete Privilegien Gedanken machen soll. Seit das Gefühl entsteht, dass andere gesellschaftspolitische Themen wie Klassismus oder Armut ins Hintertreffen geraten. Was auf den Bühnen allerdings nicht der Fall ist – so viel nur zu einem von vielen Irrtümern.

"Woker Wahnsinn"

Mitten im Herbst, als die Publikumszahlen noch nicht so angezogen hatten, verdichteten sich die Schmähungen besonders. So sei einem Bericht der Neuen Zürcher Zeitung vom 5.11. zufolge am Theater der "woke Wahnsinn" ausgebrochen, Bühnen würden sich mit "Diskursvokabular aus den Seminarräumen der Cultural Studies abschotten", so die Süddeutsche Zeitung (10. 10.). Der ehemalige Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann diagnostizierte in einem Gastbeitrag im Spiegel vom 2.12. eine ästhetische Gleichschaltung und verteufelte die Praxis von "Überschreibung, Performance, Dekonstruktion".

Es sind dies gewiss überschießende Reaktionen, und es liegt immer an der eigenen Perspektive, was als "woke" empfunden wird, aber dass sich Theater abschotten, bleibt eine Behauptung, und von Gleichschaltung hat sich das Theater die letzten hundert Jahre gewiss nur wegbewegt. Genau genommen ist das Theaterschaffen heute so vielfältig wie nie zuvor in seiner Geschichte. Man muss eben auch hingehen, um es sehen zu können.

Auch heimische Protagonisten lassen sich zu Abkanzelungen der eigenen Zunft hinreißen, so unterstellt Regisseur Nikolaus Habjan im Presse-Interview dem Theaterbetrieb, "völlig am Publikum vorbei" zu spielen, es sei zu einer "seltsamen Problemlösungsinstitution" verkommen, in der etwas desto mehr gefalle, "je lauter, je extremer" es dargebracht werde. Josefstadt-Direktor Herbert Föttinger meint gar, in England gelte deutsches Theater als "verhirntes Installationskonstrukt" (Kurier, 7. 1.). Was das sein soll und wo man dergleichen am Theater finden kann, bleibt offen. Warum soll außerdem etwas mit Hirn per se schlecht sein?

"Aussitzen"

Widersprüche pflastern die polemisch geführte Debatte. Bezeichnen die einen das heutige Theater als "Hans-Moser-Film der Generation Z" (Fabian Burstein im STANDARD-Kommentar), so fühlen sich andere wieder um von Wokeness und Hipstertum vertrieben. Justieren Theaterdirektionen die Ausrichtung ihrer Häuser nach (siehe Volkstheater Wien), wird eine Aushöhlung befürchtet; machen sie es nicht, wird ihnen "Aussitzen" oder eine "Verweigerungshaltung" vor geworfen.

Im Windschatten dieses Kulturkampfes um Inhalte und Darstellungsweisen tummeln sich auch alte Bekannte wie das Reizwort Regietheater, eine tautologische Wortschöpfung, die sich gegen ausgeprägte Inszenierungshandschriften richtet. Also genau gegen das, womit das deutschsprachige Theater in den letzten Jahrzehnten reüssierte.

Stresssituation

Dass sich Theaterhäuser verändern müssen bzw. sich längst in einem Transformationsprozess befinden, der nicht nur betriebliche Strukturen (Stichwort Machtmissbrauch), sondern auch ihre jeweilige Funktion und Relevanz innerhalb einer Stadtgesellschaft (Publikumsvielfalt) betrifft, steht außer Zweifel. Nicht zuletzt auch, weil das Theater seit vielen Jahren mit bis heute anwachsenden Konkurrenzmedien konfrontiert ist, die sich ebenfalls auf narrative Kunst verstehen und die der alten Kunstform die Hölle heißmachen.

In dieser Stresssituation an allen Fronten, auch im Kulturjournalismus, kühlen Kopf zu bewahren ist ratsam. All jene, die mit vermeintlichen Allheilmitteln wie dem "Geschichtenerzählen" oder dem Besinnen auf "echte Stücke" das Theater "retten" wollen, haben weder den Ernst der Lage begriffen, noch wissen sie Bescheid, dass dies alles am Theater die ganze Zeit geboten wird. Es empfiehlt sich, einmal vorbeizuschauen. (Margarete Affenzeller, 11.1.2023)