Im Dezember kam es im Norden des Kosovo zu Protesten und Barrikaden von Serben, nachdem ein ehemaliger serbischer Polizist verhaftet worden war. Die Probleme zwischen den beiden Ländern liegen viel weiter zurück: Serbien hat den Kosovo, der sich 2008 unabhängig erklärte, niemals anerkannt. Derzeit sei Belgrad auch gar nicht an einem Rahmenabkommen mit dem Kosovo interessiert, sagt der kosovarische Regierungschef Albin Kurti im STANDARD-Interview.

STANDARD: Nach der Krise im Norden des Kosovo gibt es sehr wenig Vertrauen von Serben und Serbinnen, die dort leben. Was werden Sie tun, um mehr Vertrauen zum Staat Kosovo aufzubauen?

Kurti: Wir sind kein großes Land, aber ein großartiges Beispiel dafür, dass Wirtschaft und Demokratie Hand in Hand gehen können. Wir sollten diese Erfahrung mit unseren Serben im Kosovo teilen. Mir geht es um Chancengleichheit, Recht und Ordnung, ein Teilen in der gesamten Gesellschaft – egal welche ethnische Zugehörigkeit, Religion, welches Alter oder Geschlecht eine Person hat. Ich werde deshalb eine neue Maßnahme einführen: eine Subvention für Arbeitgeber, die ein multiethnisches und multikulturelles Umfeld bei Arbeitnehmern einführen. Privatunternehmer werden finanzielle Anreize bekommen, wenn sie Arbeitnehmer, die Minderheiten angehören, einstellen.

Premier Albin Kurti regiert seit zwei Jahren im Kosovo.
Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

STANDARD: Sollen auch die Serben, die die kosovarische Polizei Anfang November verlassen haben, wieder zurückkehren?

Kurti: Wir haben alle Stellen, die bei der Polizei frei wurden, neu ausgeschrieben, ich habe keinerlei Intention, Serben durch Albaner zu ersetzen. Eine Kommission wird darüber entscheiden, wer aufgenommen wird. Ich möchte keine Leute ausschließen, die selbst gekündigt haben, aber ich rufe sie nicht zur Rückkehr auf, weil ich möchte, dass sich auch andere bewerben. Es sollen auch jene Serben eine Chance haben, die nicht Mitglied bei einer Partei sind (viele Serben werden im Norden von der Partei Srpska Lista, dem verlängerten Arm der Regierung in Belgrad, kontrolliert, Anm. der Red.).

STANDARD: Wann wird das Verfassungsgerichtsurteil aus dem Jahr 2016 umgesetzt, wonach das serbisch-orthodoxe Kloster Dečani 24 Hektar Land zurückbekommen soll?

Kurti: Die 24 Hektar wurden während des genozidalen Regimes von Slobodan Milošević dem Kloster gegeben. Es ist aber ein sehr sensibles Thema und braucht eine gründliche Betrachtung und Diskussion mit allen Beteiligten. Ich würde gerne die Verantwortlichen im Kloster Dečani treffen – aber sie weigerten sich bisher, mit mir zu reden.

STANDARD: Bei dem Thema geht um ein Verfassungsgerichtsurteil, um Rechtsstaatlichkeit – nicht darum, miteinander zu reden.

Kurti: Es gibt viele andere Gerichtsentscheidungen, die nicht umgesetzt wurden. Ich habe erwartet, dass ich mit Vertretern von Religionsgruppen über theologische Fragen sprechen werde und sie mehr auf Gott ausgerichtet sein würden – und nicht auf materielle Fragen.

STANDARD: In den vergangenen Monaten haben Frankreich und Deutschland ein neues Abkommen zwischen Kosovo und Serbien angestoßen. Wann könnte das umgesetzt werden?

Kurti: Am 18. August letzten Jahres kam es zu einem bahnbrechenden Zusammentreffen mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell. An erster Stelle sollte ein Rahmenabkommen zwischen dem Kosovo und Serbien verhandelt werden. Ich fand das großartig. Aber Vučić hat immer wieder gesagt, dass er nicht an so einem Rahmenabkommen interessiert sei. Er ist an Krisenmanagement interessiert, an dem Phänomen des Brandstifters und Feuerwehrmanns. Man verursacht Brände, zieht sich dann schnell eine andere Jacke an und sagt: Ich kann das Feuer löschen! Drei Wochen nach diesem Treffen kamen die Vertreter der französischen und deutschen Regierung Emmanuel Bonne und Jens Plötner mit Ideen hierher, die ich als gute Grundlage für weitere Diskussionen betrachte, weil es um universelle Konzepte und Vorstellungen von territorialer Integrität und Souveränität, Menschenrechten, Unabhängigkeit und Demokratie geht. In der Vergangenheit gab es eher eine Problemlösungsideologie, ein "Sui generis"-Vorgehen mit einem Ozean an Details, der alle entmutigt hat.

STANDARD: Und weshalb ist dann nichts geschehen?

Kurti: Es ist vier Monate her, seit die diesen Vorschlag gebracht haben – und wir hatten nur ein hochrangiges Treffen in Brüssel. Dabei hatten wir zuvor sogar einen Zeitplan, bis März oder April 2023 das Abkommen zu machen. Ich weiß nicht, was in der Zwischenzeit passiert ist. Die Initiative und die Dynamik wurden fallengelassen. Am 27. Oktober fand ein Treffen des serbischen Sicherheitsrats statt. Zehn Tage später, am 6. November, sagte der serbische Außenminister Ivica Dačić, dass bei diesem Treffen das geplante Abkommen mit dem Kosovo verworfen wurde. Offensichtlich hat die serbische Regierung dies aber deshalb erst zehn Tage später erzählt, weil man beim Gipfel in Berlin am 3. November noch gut aussehen wollte. In Berlin haben wir Vertreter der sechs Westbalkan-Staaten drei Verträge unterzeichnet. Ich habe die Sorge, dass manche Leute in der EU und in den USA das Faktum verschleiern, dass Serbien den Vorschlag für einen Grundlagenvertrag gekillt hat.

Belgrad (Foto vom August 2022) hat die Unabhängigkeit des Kosovo nie anerkannt – unterstützt u. a. von Moskau. Seit Jahren gibt es einen von der EU geführten Dialog, der allerdings immer schwieriger wird.
Foto: EPA / ANDREJ CUKIC

STANDARD: Falls es doch ein Abkommen geben sollte, was wäre der wichtigste Teil für Sie?

Kurti: Einige der Absätze aus dem deutsch-deutschen Abkommen von 1972 wurden in dem Vorschlag übernommen. Aber Willy Brandt ist damals zuvor nach Warschau gefahren und hat sich entschuldigt. Und das Abkommen war möglich, weil die beiden Deutschlands neun Monate später einen Sitz in der Uno bekamen. Doch mit Russland und China gibt es für uns so eine Chance nicht. Aber es geht auch darum, dass die fünf EU-Staaten, die den Kosovo nicht anerkennen, auch an Bord sein müssen.

STANDARD: Sehen Sie dafür irgendwelche Chancen?

Kurti: Die Atmosphäre ist viel positiver. Aber es gibt keine konkreten Schritte, mit einer Ausnahme: Griechenland hat die Vertretung des Kosovo im Land aufgewertet. Der Status unseres Büros in Athen ist der für Wirtschaftshilfe.

STANDARD: EU-Vertreter verlangen immer lauter, dass der Kosovo den serbischen Gemeindeverband, der 2013 vereinbart wurde, umsetzt. Gibt es eine Variante, der Sie zustimmen könnten?

Kurti: Unsere Verfassung erlaubt es nicht, Verbände nach ethnischen Kriterien zuzulassen, denn der erste Absatz des Ahtisaari-Plans besagt: Der Kosovo soll eine multiethnische Gesellschaft sein. Man kann also eine Vereinigung entlang der Rugova-Berge oder Šar-Berge verlangen, aber sie darf nicht auf nationaler Identität beruhen. Für mich stellt sich auch die Frage, weshalb das Ahtisaari-Abkommen nicht ausreichen sollte – darin ist sehr viel Minderheitenschutz für Serben enthalten. Wenn es um den serbischen Gemeindeverband geht, möchte ich auch auf Bosnien-Herzegowina verweisen. Am 26. April 1991 haben sich dort 14 Gemeinden mit serbischer Mehrheit zusammengetan und einen Verband gegründet; am 9. Jänner 1992 haben sie ihre Unabhängigkeit erklärt, und am 28. Februar 1992 haben sie sich eine Verfassung gegeben, am 14. Dezember 1995 wurde durch den Vertrag in Dayton, Ohio, diese Republika Srpska international anerkannt.

STANDARD: Und Sie haben Angst, dass das Gleiche im Kosovo geschehen könnte?

Kurti: Nein, ich habe keine Angst davor. Angst habe ich nur vor unbekannten Dingen. Das aber ist bekannt, es ist eine ganz klare Absicht.

STANDARD: Sie schließen also einen serbischen Gemeindeverband aus?

Kurti: Ich habe zu Vučić gesagt, dass ich den Eindruck habe, dass er den Gemeindeverband nicht will, denn man kann nicht einen Gemeindeverband wollen und jede Woche sagen: Ich werde den Staat Kosovo nicht anerkennen. Man kann keinen Caffè Macchiato ohne Kaffeetasse servieren. Doch Minderheitenrechte sind ein sehr wichtiger Teil der vollständigen Normalisierung der Beziehungen zu Serbien. Also wenn wir diesen Punkt erreichen, dann könnte Serbien einen Vorschlag machen, wie man das lösen kann. Genauso werden wir Vorschläge zu Themen machen können, die wir als wichtig für die Minderheiten in Serbien erachten.

Jetzt sind wir nach dem Plan von Frankreich und Deutschland in eine neue Phase eingetreten. Es gibt in dem Plan nämlich einen Paragrafen zu Rechten für jene, die nicht der Mehrheit angehören. Bei diesem Paragrafen kann man das einbringen. Und innerhalb der Gespräche zur vollständigen Normalisierung können wir darüber sprechen. Bisher wurden 33 Vereinbarungen getroffen. Dabei gibt es keine Hierarchie. Ich habe Interesse an der Umsetzung – etwa wenn es um den Grenzübergang nach Zvečan geht, denn dort gibt es eine illegale Straße, die wir immer wieder schließen und sie wieder öffnen. Die Vereinbarungen sind kein Buffet, bei dem man sich das Lieblingsessen aussuchen. Auch die zehn Artikel und fünf Sätze in der Präambel des deutsch-französischen Vorschlags sind kein Buffet.

STANDARD: Sie mussten aufgrund des Drucks der USA vor einigen Wochen den Versuch aufgeben, dass auch im Norden die kosovarischen Nummerntafeln eingeführt werden. Welche Art von Zusammenarbeit wollen Sie mit westlichen Mächten?

Kurti: Ich kooperiere sehr eng mit den USA, mit Deutschland, mit Frankreich, mit Italien, mit Großbritannien, mit der EU, mit der Nato. Mit der derzeitigen US-Administration haben wir eine viel größere Sympathie und Zusammenarbeit als mit der vorherigen. Aber seit Ende September 2021 die MiG-29 an unserer Grenze aufstieg und serbische Truppen an die Grenze kamen, ist die Situation eine andere geworden. Mit Serbien kann ich streiten, aber wenn der russische Botschafter in Serbien, Alexander Bocan-Chartschenko, mit der MiG-29 kommt, ist das was anderes. Ich wünsche mir deshalb mehr Nato-Soldaten hier im Kosovo.

STANDARD: Ist Ihnen irgendjemand zur Seite gesprungen, als Aleksandar Vučić Sie kürzlich "terroristischen Abschaum" nannte?

Kurti: Generell fühle ich mich nicht gleichbehandelt. Der Westen hat eine gewisse Angst vor dem destabilisierenden Potenzial Serbiens – und andererseits hat man die Naivität zu glauben, dass man Serbien dazu bringen könnte, sich bald wieder nach Westen auszurichten. Alle sechs Westbalkan-Staaten fallen deshalb in ein Loch, dessen Ränder die derzeit niedrigen Erwartungen an Vučić, aber mittelfristig die hohen Erwartungen an ihn sind. Was auch immer Vučić Positives tut, wird deshalb aufgeblasen.

STANDARD: Ist es sicher, dass der Kosovo aber 2024 Schengen-Visumfreiheit bekommt, und gibt es ausreichend Unterstützung für eine Mitgliedschaft im Europarat?

Kurti: Ja die Visumfreiheit kommt 2024. Und für die Mitgliedschaft im Europarat haben wir Unterstützung. Aber wir müssen noch einige Verfahren durchlaufen. Wir werden auch die Nato-Mitgliedschaft beantragen. (Adelheid Wölfl, 11.1.2023)