24 Seenotrettern werden auf Lesbos schwerwiegende Vergehen vorgeworfen.

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Seán Binder am Dienstag vor dem Gericht in Mytilini.

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"Wir wollen unbedingt vor Gericht", sagte Seán Binder zu Prozessbeginn vor dem Gerichtsgebäude von Mytilini, der Hauptstadt der griechischen Insel Lesbos. Der 28-Jährige wartet seit vier Jahren auf den Prozessbeginn gegen ihn und 23 weitere Seenotretter, die auf der Insel Menschen in Empfang genommen haben, die die Flucht über das Mittelmeer überlebten. Binder ist ausgebildeter Rettungsschwimmer und -taucher und teilte laut eigenen Angaben Wasserflaschen aus, reichte den Geretteten Decken. Er koordinierte die Rettungseinsätze für die Hilfsorganisation Emergency Response Center International (ERCI), die zwischen 2016 und 2018 auf der Insel aktiv war. Vor Gericht will Binder nun endlich beweisen, dass alles legal abgelaufen ist.

Doch die griechischen Behörden sehen das anders. Die Vorwürfe lauten unter anderem Spionage, illegale Verwendung von Funkfrequenzen und Urkundenfälschung. Und das sind nur die milderen Vergehen, die nun in Lesbos verhandelt werden. Die Staatsanwaltschaft wollte offenbar der Verjährungsfrist zuvorkommen und splittete die Anklagepunkte. Ein weiterer Prozess, dessen Termin noch nicht feststeht, soll zu einem späteren Zeitpunkt zu den möglichen Kapitalverbrechen stattfinden – etwa Beihilfe zur illegalen Einreise.

Am Dienstag startete der erste Prozess und wurde kurz darauf auf Freitag vertagt. Eigentlich hätte das Verfahren bereits im November 2021 beginnen sollen, doch die Staatsanwaltschaft hatte die Klage beim falschen Gericht eingereicht. Auch wurden die Angeklagten in der Anklageschrift nicht namentlich genannt, sondern nur unter nicht eindeutig zuordenbaren Nummern.

Einreiseverbot aufrecht

Der Deutsch-Ire Binder reiste für die Verhandlungstage zurück auf die Insel, Sarah Mardini – eine weitere Angeklagte – durfte das nicht.

Die heute 27-Jährige floh 2015 aus Syrien übers Mittelmeer. Nachdem der Motor des kleinen Bootes ausgefallen war, sprang sie ins Wasser und zog es mit ihrer Schwester Yusra bis an die Küste von Lesbos. Ihre Geschichte wurde vor kurzem von Netflix in "Die Schwimmerinnen" verfilmt.

Nach ihrer Ankunft in Europa wollte sie weiterhin helfen und reiste zurück nach Lesbos, wo sie sich wie Binder als Seenotretterin engagierte. Doch gegen Mardini verhängten die griechischen Behörden ein Einreiseverbot. Sie gefährde die nationale Sicherheit, hieß es. Auch für den Prozess wurde es nicht aufgehoben. Eine Verletzung ihrer Rechte, argumentieren die Anwälte. Die griechischen Behörden äußerten sich nicht.

HRW: Ermittlungsfehler

Hilfsorganisationen sehen durch den Prozess die europäische Solidarität und Hilfe für Menschen in Not in Gefahr. "Dieser Fall ist wirklich eine Schande für die griechischen Behörden, die gegen Menschen vorgehen, weil sie Leben gerettet haben, von denen die Behörden nicht wollten, dass sie sie retten", sagte Bill Van Esveld, stellvertretender Direktor für Kinderrechte bei Human Rights Watch (HRW). In einem Bericht für das EU-Parlament kamen Fachleute im Juni 2021 zu dem Schluss, dass es sich bei dem Prozess um "den größten Fall der Kriminalisierung von Flüchtlingssolidarität in Europa" handelt.

Laut Angaben der Angeklagten und Hilfsorganisationen wie Human Rights Watch stecken in den Ermittlungsergebnissen schwerwiegende Fehler. So waren Beschuldigte zu mehreren Zeitpunkten nicht im Land, als sie aber laut Anklageschrift an Rettungsmissionen in Griechenland beteiligt gewesen sein sollen. Dass sich unter dem Kennzeichen eines Autos der NGO ERCI eine gefälschte militärische Nummerntafel befunden haben soll, damit die Helfer in Sperrgebiet eindringen können, weisen die Angeklagten zurück. Das Fahrzeug habe groß die Aufschrift der Hilfsorganisation getragen. Es wäre selbst mit Militärkennzeichen unmöglich gewesen, sich als Armeefahrzeug zu tarnen.

Sollte der Prozess am Freitag weitergehen – und nicht erneut wegen Verfahrensfehlern platzen –, ist unklar, wann es zu einem Urteil kommt. (Bianca Blei, 13.1.2023)