Knapp ein Jahr ist es her, dass die Letzte Generation erstmals auf der Bildfläche erschien – und seitdem klebt sie dort wie ihre Aktivistinnen und Aktivisten auf der Straße. Die Aufmerksamkeit, die die Klimagruppe mit ihren Aktionen erregen will, hat sie bekommen. Im Rahmen einer Aktionswoche blockieren Aktivistinnen und Aktivisten seit Montag täglich den Morgenverkehr auf wichtigen Verkehrsachsen Wiens.

Das ärgert nicht nur Autofahrende, sondern auch Teile der Politik. Vor allem aus den Reihen der ÖVP mehren sich die Rufe nach strengeren Strafen für Protestierende. David Sonnenbaum* war von Anfang an bei der Bewegung dabei. Er erklärt im Interview, warum Sympathie für die Gruppe kein Kriterium ist.

David Sonnenbaum (rechts) bei einer Blockade auf der Wiener Ringstraße. Eine der wichtigsten Forderungen der Aktivistinnen und Aktivisten: Tempo 100 auf der Autobahn.
Foto: Letzte Generation

STANDARD: Vor rund einem Jahr machte die Letzte Generation erstmals mit Klebeaktionen auf sich aufmerksam. Wie ist die Zwischenbilanz?

Sonnenbaum: Wir sind in kürzester Zeit sehr bekannt geworden. Die Menschen und die Politik haben definitiv gemerkt, dass es an der Letzten Generation kein Vorbeikommen mehr gibt. Sie haben verstanden, dass man die Vernichtung der Lebensgrundlagen nicht mehr ignorieren kann. Und dass es Zeit wird, den Klimakollaps, der auf uns zukommt, ernst zu nehmen.

VIDEO: Zum Abschluss der Aktionswoche blockierten Aktivistinnen der letzten Generation eine Kreuzung bei der Wiener Secession samt Superkleber und Blaskapelle.
DER STANDARD

STANDARD: Es geht Ihnen bei Ihren Aktionen vor allem um Aufmerksamkeit. Sind Sie mit der Art der Aufmerksamkeit, die Sie bekommen, zufrieden?

Sonnenbaum: Es gelingt uns damit, Druck auszuüben. Die Emissionen sind in den letzten Jahren stark gestiegen – und steigen gerade wie noch nie zuvor. Gerade der Verkehr ist dafür immens verantwortlich. Und was macht die Regierung? Sie betoniert Österreich weiter zu und ist nicht einmal bereit, Tempo 100 auf der Autobahn umzusetzen.

STANDARD: In Ihrer Aktionswoche blockieren Sie jeden Tag Straßen in Wien. Glauben Sie wirklich, dass die Bundesregierung nach dieser Woche Tempo 100 diskutieren wird?

Sonnenbaum: Was wir dadurch definitiv erreichen, ist eine Debatte in der Gesellschaft. Die Menschen reden über unsere Aktionen. Und die Geschichte zeigt: Ziviler Widerstand hat vielleicht nicht immer sofort gewirkt. Aber im Nachhinein hat die Politik durchaus diese Maßnahmen gesetzt. So war das bei den Freedom Riders (eine Gruppe US-amerikanischer Bürgerrechtsaktivisten, die 1961 mit Überlandbussen in die Südstaaten fuhren, um gegen die Rassentrennung zu protestieren, Anm.) oder auch bei den Suffragetten (Frauenrechtlerinnen, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Großbritannien mit teils militanten Methoden für das allgemeine Frauenwahlrecht eintraten).

STANDARD: Sie meinen also, es muss erst einmal sickern?

Sonnenbaum: Genau. Beispiele aus anderen Ländern machen deutlich, dass wir erfolgreich sein können. Indem die Protestbewegung Insulate Britain in Großbritannien Autobahnen und Straßen besetzte, konnte sie eine wichtige Forderung durchsetzen: dass die Regierung alle Sozialwohnungen isoliert, damit sie weniger Emissionen abgeben und die Haushalte nicht mehr so stark heizen müssen. Sogar die konservativsten Politiker waren schließlich dafür.

STANDARD: Wie viele Menschen engagieren sich derzeit bei der Letzten Generation?

Sonnenbaum: Wir sind derzeit 30 bis 40. Bis zu 70 Leute helfen zusätzlich mit bei der Mobilisierung.

STANDARD: Bisher war die Letzte Generation vor allem in Wien aktiv. Sind auch Aktionen in anderen Städten geplant?

Sonnenbaum: Es gibt Pläne in die Richtung. In Graz sind einige sehr motiviert, in Innsbruck ebenfalls. Wir arbeiten jetzt an der Mobilisierung.

STANDARD: Woher kommt das Geld?

Sonnenbaum: Das meiste kommt von der Bevölkerung selbst. Menschen, die gut finden, was wir tun, spenden für uns. Es ist auch alles transparent: Wir haben ein Konto auf Open Collective, wo zu sehen ist, wofür wir das Geld ausgeben. Meist ist es Material und anderes Equipment, das wir für die Proteste brauchen.

STANDARD: Es handelt sich also um Privatspenden?

Sonnenbaum: Ja.

STANDARD: Das "Profil" schreibt, dass laut Angaben einer Aktivistin auch Geld aus dem sogenannten Climate Emergency Fund (CEF) kommt. Der in Kalifornien ansässige Fonds wird unter anderem von der Öl-Erbin Aileen Getty gesponsert und unterstützt Klimaproteste weltweit – unter anderem die Letzte Generation in Deutschland.

Sonnenbaum: In Österreich haben wir keinen Cent aus dem CEF erhalten. Es sind reine Privatspenden.

STANDARD: Wie viel wird durchschnittlich gespendet?

Sonnenbaum: Anfangs waren es kleinere Beträge, zwischen zehn und 20 Euro. Das wird jetzt immer mehr – die Menschen spenden zum Teil 300 bis 400 Euro. Ihnen ist es offenbar ein großes Anliegen, dass unsere Lebensgrundlagen, dass das Leben ihrer Kinder endlich geschützt wird. Und wir werden uns auch weiter dafür einsetzen.

Im Oktober 2022 schütteten Mitglieder der Letzten Generation Kartoffelpüree auf ein Gemälde von Claude Monet in Potsdam. In Deutschland wird die Bewegung auch vom Climate Emergency Fund unterstützt.
Foto: APA/AFP/Letzte Generation Deutschland

STANDARD: Wie viel Geld ist derzeit im Topf?

Sonnenbaum: Schätzungsweise 12.000 Euro.

STANDARD: Bezieht jemand ein Gehalt für sein Engagement?

Sonnenbaum: Derzeit zwei von uns. Sie bekommen zwischen 800 und 1.200 Euro – also wirklich nicht viel. Es geht nur darum, ihre Lebensgrundlage zu sichern, während sie sich Vollzeit engagieren.

STANDARD: In Deutschland beziehen angeblich Aktivistinnen und Aktivisten ein festes Gehalt von einem Berliner Verein. Wie ist das bei Ihnen?

Sonnenbaum: Menschen, die zum Teil über 40 Stunden ihrer Lebenszeit investieren, beziehen ein Gehalt auf freiberuflicher Basis. Fixe Anstellungen haben wir nicht.

STANDARD: Die Polizei schreibt, dass die Verantwortlichen eines Protests an den Kosten für einen Einsatz beteiligt werden müssen. Haben Sie schon Rechnungen bekommen?

Sonnenbaum: Wir bekommen immer wieder Vorschreibungen und Bescheide. Einmal kam eine Vorschreibung von ungefähr 1.500 Euro pro Person. Wir beeinspruchen diese Vorschreibungen. Zu einem Gerichtsverfahren ist es aber noch nicht gekommen. Im Gegensatz zu Deutschland übrigens, wo schon mehrere laufen.

STANDARD: Könnten Sie mit Ihren Aktionen nicht auch Menschen vergraulen, die eigentlich für den Klimaschutz sind?

Rechnungen für Einsatzkosten der Polizei beeinsprucht die Letzte Generation.
Foto: Imago/Martin Juen

Sonnenbaum: Wir wissen natürlich, dass unsere Aktionen im ersten Moment Wut erzeugen können. Das hat damit zu tun, dass viele das Thema lange verdrängt haben. Diese Wut tut uns auch leid – aber die Störung des Alltags ist nun einmal immens wichtig für den Protest. Dadurch ist Verdrängung nicht mehr möglich. Und: Es gibt auch immer mehr Menschen, die gut finden, was wir machen.

STANDARD: Warum sind Sie eigentlich wieder von den Kunstaktionen abgekommen?

Sonnenbaum: Es wird wohl noch weitere kreative, kunstvolle Aktionen geben. Aber momentan geht es uns eben mehr um die Störung des Alltags. Wir passen unsere Strategie immer an – an die Handlungen der Regierung, an den öffentlichen Diskurs.

STANDARD: Meinen Sie den öffentlichen Diskurs, in dem die Menschen sich gefragt haben, was Kunst, Kartoffelbrei und Klimaprotest miteinander zu tun haben sollen?

Sonnenbaum: Natürlich waren die Aktionen für die Gesellschaft ein Schock. Am Anfang dachten die Menschen: Oh mein Gott, da wird Brei über ein Kunstwerk geschüttet! Aber wenn sie die Erklärungen lesen, in den Interviews, in den Artikeln, kommt unser Anliegen rüber, davon bin ich überzeugt. Um auf die Klimakatastrophe aufmerksam zu machen, braucht es einfach auch solche Inszenierungen. Und wir möchten, dass diese friedliche Notwehr auch von den Gerichten anerkannt wird.

STANDARD: In welcher Form?

Sonnenbaum: Wir erheben immer wieder Einsprüche gegen jede Form von Strafandrohung. Und wenn wir einmal vor einer Richterin, einem Richter sitzen, werden wir natürlich auch Statements abgeben, warum wir das tun. Dann hat das Gericht die Möglichkeit, das als gerechtfertigte Notwehr anzuerkennen. Es würde damit anerkennen, dass die Menschen verzweifelt sind, weil die Katastrophen immer tödlicher werden – und sie ein gerechtfertigtes Anliegen haben. Es würde keine Verurteilungen geben.

STANDARD: Aber gehört zu zivilem Ungehorsam nicht auch dazu, dass man quasi absichtlich etwas Illegales tut?

Sonnenbaum: Sicher, durch diese Androhungen und das Gefängnis erhöhen wir den Druck zusätzlich. Die Freedom Riders haben so lange weitergemacht, bis sie 200 Menschen in Bussen waren und es zahlreiche Verhaftungen gab. Die Gefängnisse waren voll. Die Regierung kommt damit in ein Dilemma: Entweder sie hört auf, die Menschen einzusperren – oder es landen immer mehr im Gefängnis.

STANDARD: Trotzdem besteht die Gefahr, dass sich der Effekt der Straßenblockade irgendwann abnutzt. Kommt dann die nächste Eskalationsstufe?

Sonnenbaum: Wir gehen stets mit Gesicht und Namen in Aktion. Wir sind nicht die Leute, die Luft aus SUVs lassen. Dass wir zu unseren Forderungen stehen und uns nicht hinter einer Maske verstecken, hat eine enorme Wirkung. Das inspiriert andere und macht ihnen Mut – selbst wenn sie eigentlich nichts mit dem Thema zu tun haben.

Vor rund einem Jahr machte die Letzte Generation erstmals auf sich aufmerksam.
Foto: APA/Eva Manhart

STANDARD: Wie weit würden Sie selbst bei einer Aktion gehen?

Sonnenbaum: Gewaltfreiheit bleibt das oberste Gebot. Es wird nie Gewalt gegen Menschen geben.

STANDARD: Noch einmal die Frage: Was wäre Ihre Grenze?

Sonnenbaum: Auch Sachen möchten wir nicht beschädigen. Wir planen unsere Aktionen stets gut durch.

STANDARD: Immer wieder wird die Kritik laut, dass die Aktionen Menschen treffen, die nichts für die Klimakrise können. Die Kritik kommt selbst von Personen, die Ihnen politisch nahestehen, etwa von Lena Schilling.

Sonnenbaum: Mit Lena Schilling sind wir in gutem Kontakt. Außerdem ist der zivile Widerstand kein Beliebtheitswettbewerb. Und die Menschen gehen nach Hause und reden mit ihren Familien über die Aktionen. Es gibt dann immer wieder eine Person, die sagt: Irgendwie haben sie doch vielleicht recht. Erst kürzlich sagte uns eine Autofahrerin, dass sie gerne 20 oder 30 Minuten für so ein wichtiges Anliegen wartet.

STANDARD: Und die Menschen, die erbost aus dem Auto aussteigen? Was steckt hinter ihrer Empörung?

Sonnenbaum: Viele Menschen sind schon aus privaten Gründen wütend – weil das Leben schwer ist in so einem leistungsorientierten System, sie in einem Hamsterrad gefangen sind. Wir verstehen diese Wut total, und das sagen wir auch den Menschen vor Ort immer wieder. Aber die Aktionen sind gerade die einzige Möglichkeit für uns, Debatten auszulösen und unsere Forderungen durchzusetzen.

STANDARD: Ihre große Forderung ist, "die fossile Zerstörung zu stoppen". Andere sind harmloser – etwa das Tempo 100 auf der Autobahn und das Ende neuer Gas- und Ölbohrungen in Österreich. Kann man sich da nicht noch mehr erlauben?

Sonnenbaum: Klar braucht es viel mehr! Das Ende fossiler Großprojekte, des Zubetonierens in Österreich, der Vernichtung unserer fruchtbaren Ackerflächen. Das alles muss angegangen werden. Aber aktuell ist die Regierung ja nicht einmal bereit, die einfachste Maßnahme umzusetzen, für die sich selbst der Bürger:innen-Rat – bestehend aus Menschen unterschiedlicher Berufsgruppen und Altersschichten – ausgesprochen hat. Gemeinsam mit Tempo 80 auf Landstraßen würde die Maßnahme über 800.000 Tonnen CO2 im Jahr sparen. Das muss man sich einmal vorstellen! Mit so einem einfachen Schritt!

STANDARD: Aber selbst im Klimarat, den Sie jetzt angesprochen haben, gab es keine Mehrheit zum Tempolimit 100. Ist es nicht nachvollziehbar, dass eine Regierung keine Politik gegen eine Mehrheit machen kann?

Sonnenbaum: Der Klimarat fand ja bereits vor unseren Protesten statt. Außerdem kam aus dem Klimarat sehr wohl eine Forderung für die Geschwindigkeitsbeschränkung. Die Mitglieder konnten sich nur nicht auf eine konkrete einigen. Aber das Anliegen war da.

STANDARD: Aus dem Namen der Bewegung, Letzte Generation, spricht ja schon die Verzweiflung. Was gibt Ihnen Hoffnung?

Sonnenbaum: Obama hat gesagt, wir sind die erste Generation, die den Klimawandel so richtig zu spüren bekommt, und die letzte Generation, die noch etwas dagegen tun kann. Und ja: Wir sind verzweifelt. Wir steuern auf eine Erhitzung von zwei Grad zu. Momentan geben mir die Menschen Hoffnung, die so viel auf sich nehmen, um sich dagegen zu engagieren. Wir haben jetzt noch zwei bis drei Jahre, um Maßnahmen zu setzen und die Emissionen drastisch zu senken.

Vergangenen Mai kippten Aktivistinnen und Aktivisten Lebensmittel aus Mülltonnen vor das Landwirtschaftsministerium.
Foto: Letzte Generation

STANDARD: Wie wurden Sie selbst zum Aktivisten?

Sonnenbaum: Indem ich vor zehn Jahren ein Video gesehen habe, in dem gezeigt wurde, wie mit Kälbern in der Milchindustrie umgegangen wird. Da hat es bei mir Klick gemacht. Ich habe gemerkt, dass im System etwas komplett schiefläuft. Seitdem beschäftige ich mich auch mit Lebensmittelverschwendung und erlebe, wie viel immer noch weggeschmissen wird – Sodaflaschen, massenweise Brot, Salate, Bananen landen im Restmüll. Lebensmittel werden für den Müll produziert! Und ich frage mich: Wie kann ich dabei zusehen? Ich musste handeln, weil mich das Nichtstun nur noch depressiv gemacht hat. Ich habe es am Körper gespürt, im Kopf, dass ich damit nicht klarkomme. So geht es übrigens vielen von uns. Der zivile Widerstand ist also auch ein bisschen wie eine Therapieform. (Lisa Breit, Philip Pramer, 13.1.2023)