Ein von Bomben zerstörtes Gebäude in Borodjanka in der Umgebung von Kiew

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Mit dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine steht auch ein Teil der Wirtschaftswelt Kopf. Europa ordnet seinen Energiemarkt neu, Russland muss mit beispiellosen Sanktionen umgehen. Die Ukraine beklagt nicht nur viele Opfer, sondern auch eine beispiellose Zerstörung der Wirtschaft des Landes.

STANDARD: Sie haben zu Beginn des Krieges gesagt, der wirtschaftliche Ablösungsprozess Europas von Russland werde für beide Seiten schmerzlich. Fast ein Jahr später ist die Ablösung weit vorangeschritten. Gibt es für Sie dabei große Überraschungen?

Tooze: Der Erfolg, mit dem Europa auf dem Markt für flüssiges Erdgas (LNG) vorgeprescht ist. Europa hatte natürlich ein Riesenglück, weil China als großer LNG-Importeur durch die Zero-Covid-Politik 2022 ausgefallen ist und das Wetter mild war. Aber in einer sehr kurzen Zeit ist es insbesondere Deutschland gelungen, den Gaskonsum zu drosseln und neue Importquellen zu finden. Das ist in gewisser Weise eine Bestätigung der Grundthese, dass Preisänderungen etwas bewirken können. Die Krise ist aber nicht vorbei. Das zu denken wäre sehr gefährlich.

STANDARD: Warum?

Tooze: Die Turbulenzen an den Energiemärkten haben nicht mit dem Krieg angefangen. Die Energiepreise sind inzwischen wieder auf das Niveau von 2021 gesunken, aber schon damals lagen sie zwei- bis dreifach über dem Niveau der vergangenen zehn Jahre. Das heißt, wir sind immer noch in einer Ausnahmesituation. Dass die Preise schon 2021 hochgeschossen sind, hatte primär nichts mit irgendeiner russischen Strategie zu tun.

STANDARD: Sondern?

Tooze: Es lag am Gasmarkt. Die Nachfrage war hoch, China hat viel aufgekauft, während die Mengen am LNG-Markt gering waren. 2022 hat Europa vor allem die Schwellenländer Asiens vom Markt vertrieben, die gar nicht mehr zu ihren LNG-Lieferungen kamen. Wenn aber in den kommenden Monaten nicht Bangladesch, Pakistan und Indien mit Europa um das vorhandene LNG konkurrieren, also Länder, die finanziell nicht mithalten können, sondern China, Japan und Südkorea, dann kann es mit der Entspannung schnell vorbei sein. Man muss sich immer wieder vergegenwärtigen: Der LNG-Markt ist ein asiatischer Markt, für ostasiatische Kunden geschaffen.

STANDARD: Ist neben Europa nicht auch Russland überraschend gut durch die Krise gekommen? Obwohl der Westen gewaltige russische Vermögenswerte eingefroren und umfassende Sanktionen beschlossen hat.

Tooze: Dass der Westen zu diesen scharfen Sanktionen gegriffen hat, war die größere Überraschung. Dass Russland weiterhin funktionieren kann, solange es Öl in großen Mengen und sogar zu höheren Preisen als vor der Krise ins Ausland verkauft, ist nicht weiter erstaunlich. Ziel der Finanzsanktionen war es, eine Krise auszulösen. Das ist auch gelungen, die Finanzmärkte in Russland waren zunächst stark unter Druck. Aber bei kompetentem Management – und die Russen sind da äußerst kompetent – waren diese Probleme bewältigbar. Russlands Finanzsystem musste von jenem des Westens abgekoppelt werden. Und das haben sie hinbekommen.

STANDARD: Sie argumentieren in Ihrem Buch* über den Zweiten Weltkrieg, dass das NS-Regime deshalb unterlegen war, weil Deutschland ökonomisch nicht mit den Alliierten mithalten konnte. Spielt dieser Faktor auch eine Rolle im aktuellen Konflikt? Russlands Wirtschaft ist winzig im Vergleich zu jener des Westens.

Tooze: Vergleiche der Kapazitäten einzelner Länder machen dann Sinn, wenn die Staaten einen totalen Krieg gegeneinander führen. Dann hängt tatsächlich alles davon ab, wer die größeren Kapazitäten hat. Das einzige Land, das aktuell eine totale Kriegswirtschaft betreibt, weil es gar keine Alternative hat, ist die Ukraine. Sie leidet unter der Situation, die Lage ist wirtschaftlich und gesellschaftlich bedrängend. Ohne westliche Hilfe wäre das Land nicht lebensfähig. Die übrigen Staaten unternehmen keine totalen Kriegsanstrengungen, selbst Russland nicht.

STANDARD:Was bereitet Ihnen bezüglich der Ukraine die meisten Sorgen?

Tooze: Die Inflationsrate ist beängstigend, die Finanzierung des Krieges ist nicht stabil gesichert. Die Europäer und Amerikaner haben sich zwar zur finanziellen Unterstützung verpflichtet. Die Ukrainer müssen aber von Monat zu Monat bangen, was sie bekommen. Wenn man wirklich an der Fortführung dieses Krieges von der ukrainischen Seite her interessiert ist, dann sollte man sich über die Frage "Panzer liefern: ja oder nein?" hinaus intensiver damit beschäftigen, wie sich die ukrainische Heimatfront stabilisieren lässt. Das beginnt bei Stromlieferungen, geht aber weiter. Das Problem dabei ist, dass hier die Schwachstelle der Ukraine liegt. Wenn es um die langfristige Finanzierung des Staates geht, stellen sich schnell Fragen nach der Rolle der Oligarchen in Kiew und nach der Korruption dort.

Ein Hauch Normalität: ein Kebab-Stand in der ukrainischen Stadt Lwiw. Ein Generator sorgt für Strom. Russland greift die Energieinfrastruktur der Ukraine laufend an.
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STANDARD: Aktuell wird das nicht diskutiert.

Tooze: All das ist ja durch den heroischen Widerstand der Ukrainer verdrängt worden. Aber noch vor zwölf Monaten war die weitläufige Ansicht in den Hauptstädten Europas und in Amerika, dass die Ukraine im Grunde ein gescheitertes politisches Projekt ist, jedenfalls von wirtschaftlicher Seite. Wenn man sich Medienberichte Ende 2021 zum Besuch von Präsident Wolodymyr Selenskyj in Washington beim Internationalen Währungsfonds ansieht, wirkt der kritische Ton von damals heute fast anstößig.

STANDARD: Gibt es dazu in der Ukraine selbst eine kritische Debatte?

Tooze: Ja. Es gibt eine ukrainische Linke, die wenig beachtet wird im Westen. Sie warnt vor der Richtung, in der sich die aktuelle Wirtschafts- und die Gesellschaftspolitik in der Ukraine entwickeln.

STANDARD: Was wird befürchtet?

Tooze: Die Befürchtung ist, dass die Armut in der Bevölkerung bedrohlich wird. Dass die Zustände der ukrainischen Familien unerträglich werden und dass in dieser Situation der Saat entgegensteuert und im Versuch, die Wirtschaft zu retten, wesentliche Teile des Wohlfahrtsstaates opfert und den Arbeitsmarkt komplett dereguliert, im Namen der Flexibilität. Und unter anderem wird diese Politik auch von westlichen Experten befürwortet, die viele Berührungsängste haben mit dem ukrainischen Staat.

STANDARD: Die USA engagieren sich stark für die Ukraine. Sind die Ziele Europas und der USA ident?

Tooze: Die USA engagieren sich nicht deshalb so stark, um Demokratie gegen Autokratie zu verteidigen. Das ist nicht das Thema hier. Ich sage das nicht aus Zynismus heraus, sondern weil es einfach unrealistisch ist, sich vorzustellen, dass es darum geht. Das Ziel Washingtons ist eine strategische Schwächung Russlands als möglicher Partner Chinas. Das war nicht die beabsichtigte Politik von Präsident Joe Biden. Die Absicht im Weißen Haus war eigentlich, Russland abzuspalten von China. Biden wollte eine Wiederherstellung der Beziehungen mit Moskau versuchen. Dann hat Putin seine wahnsinnige Fehlentscheidung getroffen und den Krieg begonnen. Als sich herausgestellt hat, dass der ukrainische Widerstand funktioniert und die Russen nicht ohne weiteres siegen können, haben die Entscheidungsträger in Washington die Möglichkeit ergriffen und nützen seither den Krieg, um Russland strategisch zu schwächen.

"2022 hat Europa vor allem die Schwellenländer Asiens vom Markt vertrieben", sagt Adam Tooze.
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STANDARD: Welche Konsequenzen hat das für die EU?

Tooze: Das Problem ist, dass die EU extrem gespalten ist zwischen der klassischen Achse Paris–Berlin und den neuen EU-Mitgliedern in Osteuropa. Dass Berlin und Paris möglichst schnell auf einen Verhandlungsfrieden drängen, war schon immer klar. Niemand wird es richtig aussprechen, weil es peinlich ist angesichts des tapferen Widerstands der Ukrainer und der kriminellen Aggressivität Russlands. Aber es dient den eigenen Interessen Deutschlands und Frankreichs, zumal aus ihrer Sicht der wichtige Punkt schon erreicht ist: Russland hat nicht gewonnen. Das Problem ist nur, dass Amerikas Interesse ein anderes ist. Aber vor allem sieht man es in Polen und im Baltikum anders, wo mit Nachdruck darauf gedrängt wird, dass Russland nicht nur nicht siegt, sondern eine echte Niederlage erleidet. Auch die skandinavischen EU-Länder haben mittlerweile eine harte Position bezogen. (András Szigetvari, 12.1.2023)