Kanzler Karl Nehammer bittet Martin Thür, nicht "so sensibel" zu sein.

Foto: tvthek.orf.at

Wien – "Professionell, sachlich und völlig unaufgeregt. Ein gut vorbereiteter Moderator stellt Fragen – weder untergriffig noch tendenziös." So sieht die Kommunikationsberaterin Christina Aumayr-Hajek die Gesprächsführung von ZiB 2-Moderator Martin Thür.

Sein vieldiskutiertes und umstrittenes Interview mit Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer Mittwochabend in ORF 2 sahen im Schnitt 655.000 Zuschauerinnen und Zuschauer. Thür und Nehammer gerieten immer wieder heftig aneinander. Nehammer richtete Thür etwa aus, "nicht so sensibel zu sein", und warf ihm Falschbehauptung vor.

"Die Themenwahl von Martin Thür war de facto vorhersehbar und sollte für einen Bundeskanzler weder eine Überraschung darstellen noch eine Form der Gereiztheit provozieren", sagt Aumayr-Hajek im Gespräch mit dem STANDARD.

Kanzler Karl Nehammer habe "offenbar eine grundsätzliche Abneigung gegen die Interviewführung der ZiB 2-Redaktion. Der Kanzler agiert hier nach dem Motto 'Angriff ist die beste Verteidigung', weil er sich durch die ZiB 2-Berichterstattung grundsätzlich schlecht behandelt fühlt und daher gekränkt in das Gespräch startet", analysiert sie. "Sein betont emotionaler, angriffiger Zugang entwickelt sich aber zum Bumerang. Der Auftritt gerät zu einer fahrigen, entnervten, aggressiven und wenig fokussierten Vorstellung. Professionalität, Souveränität und ein emotionaler wie inhaltlicher Brückenschlag zum Publikum bleiben auf der Strecke. Möglicherweise wäre ein Auftritt im ORF-Landesstudio Niederösterreich das angenehmere Umfeld für Nehammer gewesen", lautet ihr Urteil.

ORF

ORF als Reibebaum

Konnte Bundeskanzler Nehammer mit diesem Interview punkten? Oder hat es ihm geschadet? "Es gibt Kommunikationsexperten innerhalb der ÖVP, die meinen, Karl Nehammer müsse wieder einen härteren Kurs fahren. Der ORF wird dabei – so wie von der FPÖ – zur öffentlichen Gegnerschaft und zum Reibebaum hochstilisiert: wir gegen den linken Staatsfunk vom Küniglberg", so Aumayr-Hajek. "Hier muss man der ÖVP aber sagen, das kann die FPÖ besser und authentischer, und damit gibt es auch auf diesem Feld mit diesem Kurs für Nehammer nichts zu gewinnen. Aber möglicherweise die verbliebenen vernunftbegabten Wählerinnen und Wähler zu verlieren."

Fakt sei, dass ein nicht souverän geführtes Interview vom Inhalt des Gesprächs ablenke. "Von einem Bundeskanzler erwartet sich das Publikum einen sachlichen, prägnanten und staatsmännischen Auftritt. Sympathie ist im Fernsehen auch kein Nachteil." Und hier wurde laut Aumayr-Hajek "das Gegenteil geboten. "Karl Nehammer ist ein ausgebildeter Kommunikationstrainer. Auch in dieser Hinsicht war das Interview erstaunlich schlecht und könnte als Blaupause dafür dienen, wie man es nicht anlegt."

"Bei Nehammer-Fans kommt derartiges Belehren gewiss gut an, sagt Wissenschafter Fritz Hausjell, er ist Präsident von Reporter ohne Grenzen in Österreich, "Verständnis für die Rolle der vierten Macht in der Demokratie fördert derartiges Verhalten eines Bundeskanzlers oder anderer Politiker*innen allerdings nicht".

Nehammer tue "sich, der seiner Partei und der Demokratie nichts Gutes"

Auch Politikwissenschaftlerin Katrin Praprotnik, sie ist Projektleiterin des Austrian Democracy Labs (ADL) an der Universität Graz und Mitarbeiterin am Institut für Strategieanalysen, sieht Nehammers Auftritt in der "ZiB 2" kritisch. Mit diesen Angriffen gegen Medien tue er sich, seiner Partei und der Demokratie insgesamt nichts Gutes. Das sei keine erfolgsversprechende Strategie. Jeder beurteile natürlich politische Ereignisse und auch solche Interviews mit der parteipolitischen Brille und man müsse der eigenen Wählerschaft etwas geben, "aber das geht auch mit Sachargumenten". Die Fragestellung von Martin Thür fand sie gut und völlig legitim.

Zwei Verlierer

Bei diesem Gespräch sei die "Sach- und Beziehungsebene komplett durcheinandergeraten", ortet Karin Wiesinger, Mediatorin und Präsidentin des Public-Relations-Verbands Austria. Für die Zuseherinnen und Zuseher sei eine Einordnung der komplexen Themen kaum möglich gewesen. "Alle wollten wissen, wie es weitergeht. Es war sozusagen wie ein Boxkampf."

Medien würden natürlich die Zuspitzung brauchen, "das bringt Aufmerksamkeit". Und es sei die Aufgabe des ORF, Dinge zu hinterfragen. "Aber man hat schon den Eindruck, dass Fragen mit einem gewissen Framing gestellt wurden", sagt Wiesinger. Thürs Frageneinstiege seien "sehr negativ" gewählt worden. "Die Interessenlage dieser beiden Seiten war komplett unterschiedlich", so Wiesinger. "Es hat keine Seite gewonnen, auch der ORF nicht."

Bei Nehammer ist Wiesinger "eine gewisse Erschöpfung" aufgefallen, Gelassenheit habe ihm gefehlt. "Er war zu sehr emotional aufgeladen und zu sehr in der Verteidigungshaltung. Diese Gereiztheit in einem TV-Interview so offen vor sich herzutragen und am Moderator auszulassen ist nicht dem Amt entsprechend."

Konsens immer schwieriger

Das Interview sei ein typisches Beispiel dafür, dass es immer weniger gelinge, miteinander zu reden. Wiesinger: "Natürlich muss man bei einem Interview nicht gemeinsam lösungsorientiert arbeiten, aber es ist ein Symbol dafür, wie es auch in der realen Welt immer weniger gelingt, sachlich miteinander zu sprechen, weil der Austausch auf einer solch emotionalen Ebene geführt wird, dass ein Konsens immer schwieriger wird." (Astrid Ebenführer, 12.1.2023)