Annie Ernaux (82), die Grande Dame autofiktionalen Schreibens.

Foto: Anders WIKLUND / AFP

Den Plot vom älteren, finanziell potenten und einflussreichen Mann mit jüngerer Freundin kennt man. Ausgerechnet Annie Ernaux, vergangenen Herbst wurde die 82-jährige Französin mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, dreht diesen Spieß in ihrem neuen Buch Der junge Mann um. Nur 48 groß bedruckte Seiten zählt es. Die titelgebende Figur ist aber nicht nur jung, sondern vor allem auch: wesentlich jünger. Nämlich als die Autorin, die sich daran erinnert, wie sie in ihren Fünfzigern eine Affäre mit einem 24-jährigen Studenten hatte.

Wie es dazu kam? Nun, wie wir erfahren, diente Sex Ernaux im Laufe ihrer Karriere immer wieder als Motor zum Arbeiten. Sie pflegt die Hoffnung, dass sich, "nachdem die heftigste Erwartung vorbei wäre, die des Orgasmus", die Gewissheit einstellen würde, "dass es nichts Lustvolleres gibt, als ein Buch zu schreiben". Einer der Partner ist "A". Nach einem Abendessen nimmt sie den um 30 Jahre jüngeren Mann mit zu sich. Ihre Ehe ist geschieden, ihre Söhne sind schon erwachsen. Sex nicht nur als die "Befriedigung eines Begehrens", sondern als "kontinuierlicher Schaffensprozess" zieht sie immer enger zueinander.

Matratze auf dem Boden

Die Erzählerin verbringt die Wochenenden bei A. in Rouen. Aus prekären Verhältnissen stammend und nicht viel von Arbeit haltend, ist die Kasse des Geliebten stets leer. Sie kommt also mit Einkäufen an, und noch ehe sie sie auspacken, haben die beiden zum ersten Mal Sex. Seine Matratze liegt auf dem Boden. Während Ernaux "die Unbequemlichkeit" des studentischen Lebens mit kaputten Herdplatten und ungeheizten Räume beschreibt, denkt sie auch daran, wie sie solches in ihrer eigenen Studentenzeit mit ihrem Mann erlebt hatte. So schieben sich für sie Zeiten ineinander. Es ist eine nette Metapher, dass die Uhr an der Fassade der philosophischen Fakultät der Stadt, wo sie eins selbst studiert hat, stillsteht. Doch mehr noch: In einem Ort unweit liegen ihre Eltern beerdigt, im Krankenhaus gegenüber wurde sie nach einer Abtreibung behandelt.

Sie, die eine Generation ältere Frau, die sich aus prekären Verhältnissen hochgekämpft hat, wird durch ihn noch einmal ihrer eigenen schwierigen Herkunft gewahr. Spaghetti beim Essen zu schneiden, das hat sie hinter sich gelassen.

Sex und Machtungleichgewicht

Wie sich in dieser Beziehung Sex und Machtungleichgewicht verknüpfen, ist ihr bewusst. Dass sie ihn aushält, während er ihr Lust bereitet, scheint ihr "ein fairer Handel". An eine Zukunft mit ihm denkt sie nicht. Denn: Geht sie mit ihm ins Theater, kommt ihr das vor wie eine "Wiederaufführung" von einst, als sie ihre Söhne mitgenommen hatte. Dieses Glück, wird beim Lesen fast bedrückend klar, ist schwermütig.

Gewohnt distanziert klaubt Ernaux die Beziehung, darum kreisende Überlegungen und Gefühle auseinander. Die soziale Schieflage stört die Erzählerin nicht. Das mutet wenig umsichtig, teils berechnend an. Moralische Urteile verfehlten aber den Text, der wie alle Bücher Ernaux’ im Geist der Erforschung der sonst Frauen benachteiligenden Verhältnisse steht. (wurm, 14.1.2023)