Es wirkte wie ein Paukenschlag. Erst im Oktober war der von militärischen Hardlinern hoch geschätzte Sergej Surowikin zum Oberbefehlshaber der russischen Truppen in der Ukraine ernannt worden. Nun setzte ihm Präsident Wladimir Putin demonstrativ Generalstabschef Waleri Gerassimow vor die Nase. Und Surowikin wurde zum Stellvertreter degradiert.

Dabei geht es wohl um einen Machtkampf innerhalb des russischen Militärs. Mit dem Wechsel an der Spitze soll klar die Position des Verteidigungsministeriums gestärkt werden, so sieht es das US-amerikanische Institut für Kriegsstudien (ISW). Zugleich richte sich die Maßnahme gegen die "Herausforderungen durch die russischen Militärblogger", die die russische Militärführung immer wieder kritisieren. Und gegen Jewegeni Prigoschin, den Chef der Söldnertruppe Wagner, die an vorderster Front kämpft. Auch Prigoschin hatte immer wieder vieles an der Durchführung der sogenannten "Spezialoperation" bemängelt.

Gerassimow soll es aus Putin-Sicht richten.
Foto: APA/AFP/SPUTNIK/SERGEI GUNEYEV

Der nunmehr als Befehlshaber geschasste Surowikin steht vor allem für die Bombardierung ukrainischer Infrastruktur, die Ausfälle der Stromversorgung und der Heizungen in Millionen Haushalten zur Folge hatte. Surowikin wollte das Land in Kälte und Dunkelheit stürzen und so eine neue Massenflucht Richtung Westen auslösen. Doch die für Putin so wichtigen Geländegewinne erzielte Surowikin nicht.

Viele Beobachter in Russland weisen auf seine auffällig kurze Amtszeit hin. So kommentiert etwa der Politologe Abbas Galljamow: "All diese Umbesetzungen ein und derselben Leute von einem Sessel in den nächsten, die auf der Höhe der Kampfhandlungen erfolgen, zeugen von allem Möglichen – aber nicht davon, dass 'alles nach Plan' läuft."

Klügster der Feinde

Nun also soll es der Chef persönlich richten und endlich Erfolge bringen. Generalstabschef Gerassimow, verantwortlich für die gesamten russischen Streitkräfte und nunmehr direkt auch für den Ukraine-Einsatz, steht unter heftiger Kritik von Wagner-Chef Prigoschin und Ramsan Kadyrow, der als Oberhaupt der russischen Teilrepublik Tschetschenien im Nordkaukasus seine eigenen Truppen befehligt. Gerassimow und Verteidigungsminister Schoigu seien verantwortlich für taktische Fehler, fehlende Munition, Versorgung und Ausrüstung der Truppen, betonten die beiden immer wieder.

Surowikin (links) hat nicht mehr die Befehlsgewalt in der Ukraine. Das Verteidigungsministerium von Sergei Schoigu (rechts) wurde dennoch gestärkt.
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Wladimir Putin hat sich nun also demonstrativ hinter Gerassimow gestellt. Um diesen gab es immer wieder Gerüchte, er sei zurückgetreten, verletzt oder abgesetzt worden. Nun aber sieht sich der einmal vom ukrainischen Oberkommandierenden Walerij Saluschnyj als "Klügster" unter den Militärs in Moskau bezeichnete Gerassimow im Aufwind.

Die Politologin Tatjana Stanowaja meint, Putin zeige mit der neuen Kommandostruktur einmal mehr, dass er nichts vom Militär verstehe. Der Präsident sei hin- und hergerissen zwischen Prigoschins Wagner-Truppe und Gerassismow. Putin folge nur seiner Logik und Einstellung zu Untergebenen, so Stanowaja: "Alle sind Idioten, aber andere gibt es nicht." Ihrer Einschätzung nach muss Gerassimow wohl Putin bei einer Aussprache davon überzeugt haben, dass das Militär den Krieg gewinnen könne. Für die Scharfmacher sei das "ein Schock".

Soledar ein Pyrrhussieg?

Kommt mit dem neuen Oberbefehlshaber jetzt der Durchbruch? Kreml-Chef Putin jedenfalls steht nach dem Tod vieler russischer Soldaten bei einem ukrainischen Raketenangriff in dem Ort Makejewka zu Silvester mehr denn je unter Druck. Erfolg sollte nun die Einnahme der heftig umkämpften Stadt Soledar im Gebiet Donezk bringen. Gerassimows Widersacher Prigoschin, dessen Wagner-Truppen dort kämpfen, hat bereits die Einnahme der Stadt erklärt.

Das bestätigt nun auch das russische Verteidigungsministerium. Die Stadt sei am Abend des 12. Jänner in die Kontrolle der russischen Streitkräfte übergegangen, heißt es in einer Erklärung. Es ist der erste große Gebietsgewinn nach den zahlreichen Rückschlägen in den vergangenen sechs Monaten. Noch steht eine Bestätigung Kiews aus. Für Prigoschin wäre es ein Triumph. Nachhaltig verändert hätte sich die militärische Lage dadurch allerdings nicht.

Wird Prigoschin (links), auch bekannt als Putins Koch, an seiner Kritik am Militär festhalten?
Foto: Alexei Druzhinin, Sputnik, Kremlin Pool Photo via AP

Für das US-amerikanische ISW ist es "bestenfalls ein russischer taktischer Pyrrhussieg". Man rechne nicht damit, dass Gerassimow Putins "unrealistische Erwartungen" einer vollen Eroberung der vier annektierten ukrainischen Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson erreicht. Doch Putin bestätige durch Gerassimows Ernennung die führende Rolle des Militärs in dem Krieg, so das ISW. Eine erniedrigte, aber mächtige russische Militärführung hätte leicht zur Gefahr für Putin selbst werden können. Nun aber werde sie durch die Stärkung Gerassimows kaum Widerstand gegen Putin leisten. (Jo Angerer aus Moskau, 14.1.2022)