Ein Ort der Gegensätze: das Schweizer Skiparadies Davos.
Foto: European Film Conspiracy/Collage: Der Standard

Es ist schwarz um uns herum. Wir sind eng zusammengerottet, hören einander atmen, wir wissen, es wird gleich passieren. Dann bricht es über uns herein: Schreie. Maschinengewehrsalven im Surround-Sound. Männer packen uns an den Armen. Sie schubsen uns aus der Dunkelheit in einen schwach beleuchteten Korridor, wir drängen uns zwischen Stacheldrähten durch, immer ihr Gebrüll im Ohr. Schließlich pferchen sie uns in Zelte. Niemand traut sich, ein Wort zu sprechen. Wir schauen zu Boden, kauern und warten. Wir tun, als sei Krieg, als seien wir auf der Flucht. Aber wir sind es nicht. Wir sind in der Tiefgarage des Hilton-Hotels in Davos und spielen das Rollenspiel A Day in the Life of a Refugee. Es wird gesponsert von Nestlé, Facebook und Microsoft und richtet sich an die Teilnehmer des World Economic Forum 2018.

Foto: AP Photo/Markus Schreiber, File

Ein paar Meter weiter oben ist es gleißend hell. Es liegt meterhoch Schnee, und nur wenn man genau hinsieht, erkennt man auf den weißen Dächern die Scharfschützen. Sie sorgen für Sicherheit, denn in Davos bewegen sich wirklich alle, an die sich die Geschichte später einmal erinnern wird. Es ist schon ein besonderes Erlebnis, während des Forums über die Davoser Promenade zu spazieren und zu beobachten: Prince William wärmt seine Hände an einem Kaffeebecher, Bono von U2 hetzt vermutlich Richtung Weltrettung, Greta Thunberg stapft durch den Schnee, Bill Gates hält einem die Tür auf, der CEO von Goldman Sachs spricht ernst in sein Headset.

Teure Tagung

Wir, ein kleines Dokumentarfilmteam, sind nur Zaungäste inmitten dieser gewaltigen Maschinerie aus Macht und Geld. Presse und Politik dürfen auf Einladung kostenlos nach Davos. Für alle anderen ist eine Einladung nur die halbe Miete. Die Jahresmitgliedschaft, die man für ein Ticket braucht, kostet etwa 60.000 Euro, ein Ticket für das Jahrestreffen um die 25.000. Das ist nur das Starter-Kit. Die Preise für ein Zimmer in Davos sind sehr hoch. Die einzige verfügbare Unterkunft auf Booking.com für nächstes Jahr, also 2024, kostet rund 12.000 für die Dauer des Jahrestreffens. Man erzählt sich, dass sich manche Manager Stockbettzimmer teilen, um dabei sein zu können. Mit Gewissheit aber nächtigt der Tross an Servicepersonal in wenig komfortablen Zimmerkonstellationen.

Filmtrailer "Davos".
visionsdureel

Das Herzstück des Jahrestreffens sind die Keynotes und die sogenannten Sessions, Gesprächspanels, die Menschen zum Dialog zusammenbringen. Nicht irgendwelche Menschen, sondern jene, die gewissermaßen der Dialog sind. Etwa: Die Chefin von Greenpeace diskutiert mit dem Head of Coca-Cola über Plastikmüll. Das ist spannend, wobei es mit Sicherheit spannender wäre, jenen Gesprächen zu lauschen, die im Anschluss beim Käsefondue geführt werden, oder hoch oben in den Gondeln über den Skipisten, weit über den Köpfen der anderen. Und dann, nach fünf Tagen, ist das Jahrestreffen wieder vorbei. Die Quartiere von Black Rock, Facebook und Wall Street Journal werden wieder umgebaut in die lokale Buchhandlung, den Davoser Friseur, ein Möbelgeschäft. Kolonnen an schwarzen Vans fließen aus der Stadt, Helikopter steigen in die Lüfte. Die Davoser haben ihre Stadt zurück, und die Forumsteilnehmer reisen weiter in alle Richtungen der Welt.

Aufgegebener Bauernhof

Andres Ambühl, Davoser Bergbauer, verreist nie. Sein Hof nimmt seine ganze Zeit in Anspruch, es gibt das ganze Jahr über Arbeit, kein Raum also für große Sprünge. Menschen wie Ambühl sind das Wurzelwerk von Davos. Als wir ihn vor Jahren kennenlernen, bewirtschaftet er gemeinsam mit seiner Frau Annemargreth 23 Hektar zum Teil sehr steile Nutzfläche im Davoser Sertigtal, sie führen einen Milchwirtschaftsbetrieb. 1984 haben die Ambühls den Hof von Andres’ Eltern übernommen. Ob eines der vier Kinder die Tradition weiterführen wird?

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Wir sind zu Besuch beim Mittagessen, die Familie ist um den Tisch versammelt. Die meisten, sagen die Ambühls, könnten sich gar nicht vorstellen, wie viel Arbeit investiert werden muss, bis ein Glas Milch trinkfertig ist. Der Milchpreis sei das Problem. Daran könne man messen, wie wenig ihre Arbeit wertgeschätzt werde. Sie würde den Hof gerne übernehmen, sagt Tochter Nadia. Aber sie lebe nun einmal in einer Zeit, in der jeden Monat Zahltag sei. Im Sommer, wenn die Kühe weniger Milch geben, sei dementsprechend auch mit weniger Verdienst zu rechnen. Diese Unsicherheiten und das Wissen darum, dass Bauersein eine Lebensaufgabe ist, halten die Kinder davon ab, in die Fußstapfen der Eltern zu treten. 2019 erhielten die Ambühls schließlich eine Nachricht vom Bund: Ihr Betrieb müsse modernisiert werden. Das hätte sich nicht mehr gelohnt. Also gaben sie den Hof auf. Einen der letzten Davoser Landwirtschaftsbetriebe. Aber sich zur Ruhe setzen, das können sie nicht: Beide helfen auf anderen Höfen aus, er geht heuen, sie geht melken. Um Geld zu verdienen, aber auch, weil sie ihre Arbeit vermissen.

Weltwirtschaftsforum neben Transitzentrum für Flüchtlinge

Nicht nur in Davos haben es Bauern schwer. Aber nur in Davos rücken die Gegensätze zwischen Arm und Reich, zwischen dem, was Wirtschaften einst war, und dem, was es heute ist, so nah zusammen wie während des Weltwirtschaftsforums. Wobei die Davoser auch vom Forum profitieren. Die, die Ladenlokale und Wohnungen haben, vermieten diese für viel Geld unter und fahren in den Urlaub, weil sie ihre Stadt sowieso nicht nutzen können, weil der Kern der Stadt auch für sie gesperrt ist. Von denen, die dableiben, arbeiten viele im Servicebereich des Forums, als Fahrer, als Sicherheitspersonal oder in der Hotellerie. Trotzdem, in Davos treffen Welten aufeinander. Und sie kommen kaum miteinander in Berührung.

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Am stärksten wird das in einem umgebauten Hotel am Ortsrand erlebbar. Es ist seit zehn Jahren ein Transitzentrum für Flüchtlinge, bis heute. Hier wissen viele gar nicht, was das Weltwirtschaftsforum, das ein paar Kilometer weiter weg stattfindet, überhaupt ist. In Davos Laret sind besonders viele minderjährige Jugendliche untergebracht. Pädagoge Johannes Weber hat mit den pubertierenden Jungs im Zentrum eine Rapgruppe gegründet. Sie treffen sich regelmäßig in der alten Gaststube. Dieses Mal bereiten sie sich sogar auf einen Auftritt vor, für den sie engagiert wurden. Geld gebe es keines, aber Dessert, so viel sie wollten. Den Jungs ist das recht. Sie üben sich ein: "Ich bin Afghane, schwarz-rot-grün meine Fahne, schwarz der Tod, rot das Blut auf der Straße ..." Jeder der Jungs hat einen Solopart. Nach der Reihe tragen sie vor. Bis Ali dran ist. Aber der ist nicht da.

Der Pädagoge versammelt alle um sich. Ihr Freund Ali sitze in Abschiebehaft, sagt er. Und er ermutigt sie, Ali zu besuchen. Es gehe ihm nicht so gut. Die Stimmung ist kurz getrübt. Aber dann rappen sie wieder, und ein anderer übernimmt Alis Part: "Mein Name ist Ali, ich habe nichts zu verlieren, du solltest mich besser nicht provozieren, ich wollte mich in der Schweiz integrieren, aber hab bis jetzt leider keine Scheißpapiere." Zu Hause ist in Davos niemand von ihnen. Wie die Besucher des Forums sind auch die Menschen im Transitzentrum nur vorübergehend hier. Bloß fällen sie keine Entscheidungen, sondern warten auf welche.

Empathie-Übung für Mächtige

Zurück im Keller des Hilton, im simulierten Leben eines Geflüchteten. Wir haben viel erlebt in 60 Minuten. Wir haben uns streng rationiertes Essen erkämpft und wurden von Militärs verhört. Wir haben in der Tagesschule ein paar Brocken Deutsch gelernt, nur um dann im Asyl-Support-Office zu erfahren, dass unser Asylantrag chancenlos sei. Dann ist der Ausflug in diese andere Welt wieder vorbei. Die Teilnehmer holen sich ihre Rolex und ihren Cartier-Schmuck zurück und legen damit ihre echte Identität, ihren echten Status wieder an. Sie sind nicht auf der Flucht, sie suchen kein Asyl. Sie seien, so sagt ein Mann in einer Rede, die mächtigsten Menschen dieser Erde. Und sie sollten wissen, dass all die Menschen auf der Flucht die Bauern ihres geopolitischen Schachspiels seien.

Das also ist der Sinn der Simulation: Jene mit Macht und Einfluss sollen erfahren, wie es sich anfühlt, ein Flüchtling zu sein. Um später empathischer entscheiden und gestalten zu können. Manche der Teilnehmer haben Tränen in den Augen. Am Ende sollen sie eine Postkarte schreiben. An sich selbst. Sie soll das obere ein Prozent später, dann, wenn sie ihr Alltag wieder fest im Griff hat, an die anderen erinnern, in deren Haut sie geschlüpft sind, für eine Stunde, damals in Davos. (Julia Niemann, 15.1.2023)