Wer an die Ukraine denkt, denkt derzeit wohl meist an das Leid, das ein knappes Jahr Krieg mitten in Europa angerichtet hat; vielleicht auch an die beeindruckende Widerstandskraft der Menschen dort oder an die Schrecken des Krieges, die Bewohner und Soldaten derzeit in Orten wie Soledar oder Bachmut erleben müssen. Wohl die wenigsten denken an Schläuche und alte Kaugummis. Und doch sind diese Gegenstände wichtige Metaphern in einer der hitzigsten Debatten, die derzeit um den Umgang mit dem russischen Angriffskrieg toben – jener um die Bewaffnung Kiews und um die Frage, wer eigentlich finanziell dafür aufkommt.

Lend-Lease Act oder Leih- und Pachtgesetz heißt das US-Papier, auf das sich Gegner der Waffenlieferungen, und oft auch Freunde Russlands, im Diskurs gerade einschießen. Der Tenor ihrer Vorwürfe: Die USA würden nur scheinbar großzügig Hilfen für die Ukraine versprechen, in Wahrheit ihre teuren Waffensysteme aber verkaufen – und dies auch noch auf Kosten der europäischen Partner. Von diesen wiederum würde erwartet, Kiew gratis aus der Patsche zu helfen.

All das ist, so wie es verbreitet wird, großteils nicht wahr – und im Rest grob verzerrt. Richtig ist aber, dass die Geschichte der ukrainischen Rüstung komplizierter ist, als sie oft scheint. Um sie zu verstehen, hilft ein Blick in die Geschichte.

Kampf dem Faschismus

Ukraine Democracy Defense Lend-Lease Act of 2022 heißt das Gesetz, über das die US-Regierung die meisten Mittel fließen lässt. Der Name ist nicht zufällig gewählt. Er ist ein Rückgriff auf eines der wichtigsten Programme des Zweiten Weltkriegs im Kampf gegen den Faschismus. Mit dem damaligen Leih- und Pachtgesetz rüsteten die USA bereits ab Februar 1941, also vor dem Kriegseintritt Washingtons, jene Staaten mit Material aus, die gegen die Achsenmächte Deutschland, Italien und Japan kämpften. Dazu zählten neben Großbritannien auch die Sowjetunion und China. Dass Washington nun den gleichen Namen wählte, zeigt auch, in welchem Kontext man den Angriffskrieg Russlands sieht. Signiert hat US-Präsident Joe Biden das Gesetz ausgerechnet am 9. Mai – dem Datum, an dem Moskau den Tag des Sieges gegen den Nazi-Faschismus feiert.

Womit wir, über Umwege, wieder bei Schlauch und Kaugummi sind: Von Ersterem sprach 1941 der damalige US-Präsident Franklin D. Roosevelt, als er Hilfen für Europa ankündigte. Kurz zuvor hatte ihn der britische Premier Winston Churchill um Waffen, aber auch um Lebensmittel für die bedrängten Briten gebeten. Damals stand es Spitz auf Knopf. Die Wehrmacht überrollte Europa, Roosevelt wollte helfen, am besten schnell und unkompliziert. Wenn das Haus des Nachbars brenne, sagte er bei einer Pressekonferenz, borge man ihm einen Schlauch – auch dann, wenn dieser 15 Dollar koste und der Nachbar diese im Moment nicht besitze. Er solle den Betrag eben irgendwann später zurückzahlen. Nicht alle US-Politiker waren überzeugt. Isolationisten beider Parteien wollten die militärisch neutrale Position der USA beibehalten.

Der Republikaner Robert Taft sagte, die Idee, Kriegsgerät zu verborgen, sei ein ebenso guter Deal wie ein Kaugummiverleih: Man werde das Geliehene nicht mehr zurückhaben wollen. Tatsächlich ging das Gesetz damals sogar weiter und erlaubte dem Präsidenten auch das Verschenken von Material.

Franklin D. Roosevelt wollte den schnell und effektiv den Gegnern der Nazis helfen.
Foto: Imago / Cinema Publishers

Mit einer baldigen Rückzahlung durch die Ukraine – einen Staat, der ohne Hilfen wohl schon pleite wäre – rechnet auch nun niemand. Dagegen spricht allein schon das Ausmaß der Unterstützung: Auf deutlich mehr als hundert Milliarden US-Dollar beliefen sich die gesammelten Hilfen schon zum Stichtag 20. November – dem letzten Datum, für das das renommierte Kieler Institut für Weltwirtschaft (IFW) vergleichbare Daten zusammengetragen hat. Rund 52 Milliarden Euro entfielen damals auf die EU, auf ihre Institutionen und Mitgliedsstaaten, und rund 48 Millionen auf die USA. Etwa 14 Milliarden steuerten weitere Akteure bei.

Seither dürften sich die Beträge noch vergrößert haben: Erst Mitte Dezember etwa beschlossen die Staats- und Regierungschefs der EU weitere 18 Milliarden an Hilfen für das Jahr 2023, die USA sagten jüngst wieder fünf Milliarden zu. Außerdem hat Washington die Lieferung eines Patriot-Raketenabwehrsystems zugesagt, auch Deutschland will Kiew mit einer Batterie versorgen. Dazu kommen rund 40 Schützenpanzer vom Typ Marder, die Berlin bereitstellt, sowie französische AMX-10-RC-Spähpanzer. Die Briten wollen rund ein Dutzend Challenger-2-Kampfpanzer liefern. Womöglich erhält Kiew bald auch 14 Stück der neueren deutschen Leopard-Kampfpanzer aus Polen. Das freilich ist auch eine politische Frage: Deutschland muss für den Weiterverkauf der Panzer sein Okay geben, zierte sich vorerst aber noch.

Gratis gibt es für Kiew Informationen. Ihr finanzieller Wert ist schwer zu beziffern, der Vorteil aber unbezahlbar: Ohne die Kooperation westlicher Geheimdienste wären wohl einige ukrainische Erfolge nicht möglich gewesen. Von den Kriegswarnungen 2022 ganz zu schweigen. Zu alldem kommt Hilfe, die nicht direkt in Waffen fließt – etwa die bisherigen humanitären Spenden Österreichs.

Nicht nur Nächstenliebe

Das alles ist nicht nur uneigennützig. Russlands Streben nach Ausdehnung bedroht die EU schließlich auch direkt. Dass man diese Gefahr am besten gleich in der Ukraine stoppen sollte, bevor sie auch am Baltikum oder in Polen virulent wird, sagen nicht nur die betroffenen Länder.

Dafür sind viele nun auch bereit, relativ moderne Systeme wie Himars, Patriot oder Leopard zu liefern – was ein recht neues Phänomen ist. Denn zuerst sortierten viele EU-Staaten einmal ihre alten, teils eingestaubten Systeme aus und stellten sie der Ukraine zur Verfügung. "Ringtausch" heißt das Zauberwort: Um den Verlust der eigenen Verteidigungsfähigkeit zu kompensieren, bestellte man modernes, frisches Gerät nach. Die gesteigerten Militärhaushalte machen es möglich. Stichwort: Zeitenwende.

In die Ukraine ging also "der alte Schrott", wie es ein Diplomat einmal bezeichnete. So geringschätzend wie das klingt, war das Prinzip aber nicht. Denn die Methode hatte für Kiew praktische Vorteile. Die Systeme stammten häufig aus Beständen der Ex-Sowjet- und Ex-Warschauer-Pakt-Staaten. Sie waren daher mit jenen der Ukraine kompatibel. Eine Einschulung, wie sie bei westlichen Systemen oft fällig ist, dauert damit nicht lange oder entfällt vollkommen. Und auch die Munition passt.

Rohstoffe als Kredittilgung

Mit der Lieferung hochmoderner Waffen, Luftabwehrraketen oder Kampfflieger und -panzer waren westliche Staaten bisher vorsichtig. Nicht nur aus Angst vor Eskalation – sondern auch aus pragmatischen Überlegungen. Immerhin droht stets die Gefahr, dass moderne Nato-Technologie in den Kriegswirren in russische Hände fällt. Und auch Korruption und illegaler Waffenhandel sind nie auszuschließen, wenngleich Washington extra Beobachter schickt, um dieses Risiko zu senken. Dass neue Waffen für die Ukraine aber viel effektiver wären, das steht fest.

Geschenkt ist aber auch die EU-Hilfe an die Ukraine nicht. Jene 18 Milliarden Euro etwa, die die EU Kiew Ende 2022 zusagte, sind ein Darlehen. Freilich eines mit sehr günstigen Konditionen: Tilgungsfrei über zehn Jahre, die Union übernimmt dabei außerdem einen Großteil der Zinskosten. Zurückzuzahlen wird das Geld am Ende aber sein.

Die Arbeit an den Waffen will gelernt sein – im Bild Ausbildung in Lviv.
Foto: AP / Mykola Tys

Wahrscheinlich zumindest. Wie so etwas ablaufen kann, zeigt auch die Geschichte des ersten Leih- und Pachtgesetzes. London und Moskau mussten ihre Schulden damals tatsächlich über Jahrzehnte zurückzahlen. Das tat allerdings nicht immer besonders weh. Denn die Kredite waren über viele Jahrzehnte gestreckt und nicht an die Inflation gebunden – der zu zahlende Wert sank also mit der Zeit. Beim Kalten-Krieg-Partner London drückten die USA zudem beide Augen zu, indem sie sich auf besonders günstige Konditionen einigten: Das Material wurde an seinem einstigen Einsatzort belassen und an die Briten verkauft – zum "Schrottwert" von rund zehn Prozent des einstigen Preises.

83 Millionen US-Dollar machte in der Silvesternacht auf 2007 die letzte Tranche der Bank of England an die Federal Reserve in New York aus. 61 Jahre nach Kriegsbeginn war man in London fast ein bisschen stolz, den "Verpflichtungen zur Gänze nachgekommen zu sein". Immerhin hatten einst auch die USA "ihre Verpflichtungen erfüllt", wie es Ed Balls, damals Labour-Staatssekretär im Londoner Schatzkanzleramt, formulierte. Strenge Rechnung, gute Freunde.

Joe Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris nach der Unterzeichnung des neuen Lend-Lease-Acts im Mai.
Foto: Reuters / Kevin Lamarque

Für nicht ganz so gute Freunde war die Rechnung aber strenger. Die Sowjetunion stellte den USA für Lieferungen in Höhe von 9,8 Milliarden Dollar letztlich Rohstoffe im Wert von 7,3 Milliarden Dollar zur Verfügung. Die Differenz wurde großteils in Gold erlegt.

Im Fall der Ukraine ist davon auszugehen, dass sich eines Tages großzügige Modalitäten finden werden. Der erneuerte Lend-Lease Act für das Land spricht formal zwar ebenfalls von einer Rückzahlung der Kosten. Allerdings ist und bleibt es wohl im strategischen Interesse der EU und der USA, dass demokratische Länder wie die Ukraine nicht von expansionistischen überrollt werden. Zugleich liegt Washington eine längerfristige Schwächung des Antagonisten Russland am Herzen. Und die gibt es aktuell zum Schnäppchenpreis.

Alle Ukraine-Hilfen eingerechnet zahlt Washington nur rund fünf Prozent des Pentagon-Budgets. Eine Schwächung der Ukraine durch jahrelangen Schuldendienst würde diesen Erfolg wieder verringern.

Lukrative Aufträge

Die Finanzmittel werden so schnell also nicht zurückfließen. Und aus diesem Grund sucht man bereits andere Möglichkeiten, sich bei Washington und Brüssel zu revanchieren. In den Fokus gerät dabei der Wiederaufbau. So steht etwa im Raum, dass US- und EU-Firmen eines Tages bei den dafür nötigen Arbeiten lukrative Aufträge zugesprochen bekommen könnten. Das würde, sollten auch ukrainische Firmen noch ausreichend zum Zug kommen, allen Seiten helfen. Freilich bräuchte es auch dafür Finanzmittel. Und wieder gibt es ein Vorbild. Von einem Marshallplan für die Ukraine ist derzeit aber noch selten die Rede. (Manuel Escher, Fabian Sommavilla, Datengrafik: Lisa Duschek, 15.1.2023)