Falls es irgendjemandem gelungen sein sollte, von diesem Mann in den letzten Wochen und Monaten gänzlich unbehelligt geblieben zu sein, weiß man nicht, ob man Glückwünsche aussprechen oder sich Sorgen machen sollte: Denn das war eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Und spätestens seit sich das bärtige Konterfei von Prinz Harry, Duke of Sussex, in diesen Tagen in der Buchhandlung Ihrer Wahl zu unüberwindbaren Londoner Türmen aufbaut – mancherorts mit Sektflaschen gekrönt –, gibt es endgültig kein Entrinnen mehr.

Ja, es könnte gestandenen Republiksanhängern eigentlich wurscht sein. Und ja, nach dem Serienerfolg von The Crown, endlosen Dokus, dem (erzwungenen) Abschied Harry und Meghans aus dem Dienst am Buckinghampalast, "die Firma" genannt, und dem eigentlich schon nicht mehr für möglich gehaltenen Ableben der Welt(ur)großmutter Queen Elizabeth II. dachte man, es hätte sich nun eigentlich für ein Zeitl ein bisserl ausgeroyalt.

Schrecklich nette Familienaufstellung, als der Haussegen noch weniger schief hing: Prinz Harry, Dritter von rechts.
Foto: Imago

Tatsächlich aber ist erst Harrys nun erschienene Autobiografie so etwas wie ein Schlussstein, ein Missing Link zum tieferen Verständnis der altehrwürdigen Institution und unverbesserlichen Psychowrack-Ausbildungsstätte Monarchie.

Das Buch trägt den Originaltitel Spare (zu Deutsch: Reserve), was auf Prinz Harrys Lebensrolle als Zweitgeborener und mittlerweile Fünfter in der Thronfolge verweist. Als "heir" (Erbe) ist bekanntlich Prinz William, der große Bruder, vorgesehen. 500 Seiten ist das Buch stark, als Ghostwriter fungierte auf Empfehlung George Clooneys der US-Journalist J. R. Moehringer, Pulitzer-Preisträger und Verfasser der Biografie Andre Agassis. Seine Methode: hunderte Stunden an Gesprächen, teilnehmende Beobachtung, bis hin zur völligen Identifikation mit den Porträtierten.

Wie aus einem Guss

Die aus der Ich-Perspektive erzählte Geschichte Harrys wirkt denn auch wie aus einem Guss. Trotz insgesamt fünf Übersetzern mag die deutsche Fassung hinter dem Original sprachlich abfallen, dennoch ist die Erzählstruktur top, die Ein- und Ansichten sind reflektiert, und dort, wo Kitsch und Pathos überhandzunehmen drohen, kratzt der Autor meistens noch die Kurve. Ja stellenweise hat der Ziegel sogar literarischen Anwert. Das musste er auch, denn Harry bringt im Buch nicht nur seine Abscheu vor der gängigen Royal-Fernbiografik zum Ausdruck, sondern er bezeichnet die Briten auch als zwar belesenes, dabei aber viel zu leichtgläubiges Volk.

Die Autobiografie "Spare/Reserve" türmt sich aktuell in allen Buchhandlungen auf. Besteller mit Ansage.
Foto: APA

Worum es Harry im Kern geht? Um eine Abrechnung mit der unsäglichen Revolverblattpresse. Das wird nicht nur in seinen jüngsten, durchaus von Eloquenz getragenen Interviews deutlich, es zieht sich quer durchs ganze Buch: vom Urtrauma, dem Unfalltod seiner Mutter Diana im Jahr 1997, bei dem sie von Paparazzi durch Paris gejagt wurde, bis hin zur unterschwellig bis offen rassistischen medialen Kampagne und im Buch auszugsweise zitierten Hasspostings gegen Ehefrau Meghan, die auf den Profilen des Palasts unkommentiert stehen gelassen wurden. Das Monarchie-kritische Qualitätsmedium Guardian hielt dazu fest, Meghan "zu drangsalieren" sei "ein Nationalsport geworden, der uns zur Schande gereicht".

Die Geschichte sollte sich nicht wiederholen, also musste sie erzählt werden. Subjektiv, radikal ehrlich, ungeschönt. Klarerweise griff sich die Yellow Press im Vorfeld des Erscheinens von Spare durch ein Leak der spanischen Ausgabe die "g’schmackigsten" Gustostückerln heraus, fabrizierte Schlagzeile um Schlagzeile, die auf ein Schundwerk schließen ließen.

Tatsächlich aber nehmen sich derlei Anekdoten über Harrys Peniserfrierung (nebst anderen körperlichen Schäden) bei einer Nordpolbegehung, seine Entjungferung hinter einem Pub oder die Handgreiflichkeit "Willies" gegenüber Harry im Gesamtzusammenhang gelesen überhaupt nicht billig aus, sondern als selbstironische Abwechslung vom harten Tobak, der sonst wohl eher ungenießbar wäre.

Mitunter verschränken sich Kritik und Witz sogar vortrefflich: "Pa erkundigte sich bei Meg, ob sie wirklich, wie man ihm berichtet hatte, der Star einer US-amerikanischen Soap Opera war! Sie lächelte. Ich lächelte. Zu gerne hätte ich gesagt: Soap Opera? Nein, Pa, das ist unsere Familie."

Paparazzi im Krieg

Harry beschreibt den Paparazzi-Wahnsinn, der alle seine vorherigen Freundinnen und beinahe auch "Meg" vertrieben hätte, eindringlich und detailgenau wie einen Krieg, der nie endet und nicht zu gewinnen ist. Mediale Lügen und familieninterne Intrigen im selbstzerstörerischen Wettkampf um die beste PR werden aufgerollt. Wo er selbst Fehler gemacht hat, gesteht er sie ein oder erzählt die ganze Geschichte hinter dem "Skandal". Der Tonfall der Familie gegenüber bleibt dabei dennoch respektvoll, die Hand ausgestreckt. "Ich hatte nie ein Problem mit der Monarchie. Was ich kritisiere, ist die Presse und die kranke Beziehung, die sich zwischen ihr und dem Palast entwickelt hat."

Spare wird als Klassiker der Goldener-Käfig-Problematik in Erinnerung bleiben. Es ist die Geschichte eines Frühtraumatisierten mit ödipalen Verletzungen, der Halt erst in der Armee findet, wo er einfach "Mr. Wales" sein darf. Und man atmet beim Lesen auf, dass der Windsor-Lösung "Militär statt Psychotherapie" nach einer posttraumatischen Belastungsstörung durch den Afghanistankrieg (den Harry nachträglich ablehnt, wie auch so manche Verirrung des Kolonialismus) doch noch die Therapie folgt. Stellenweise erinnert das Psychogramm des ohnmächtig mit dem System hadernden Missverstandenen an Habsburgs Kronprinz Rudolf – wenngleich dieser wohl der Belesenere war.

Den dreistelligen Millionenbetrag, den Harry inklusive einer Netflix-Doku mit seiner Geschichte einsackt? Als gutes Schmerzensgeld geschenkt. Als Paradefall der Familienpsychologie (Erstgeborene konservativ, Nachgeborene rebellisch) und als Vertreter dessen, was der Kulturtheoretiker Dieter Thomä als "puer robustus" beschrieben hat, als Störenfried, der aneckt, nervt, aber eben auch Missstände aufzeigt, sollte man diesen Buben im Mann in erster Linie eines: liebhaben. (Stefan Weiss, 14.1.2023)