Der Fall des Schauspielers Florian Teichtmeister hat das Thema Kindesmissbrauch seit Freitag in den medialen Fokus gerückt. Teuchtmeister wurde wegen des Besitzes kinderpornografischer Bilder angeklagt. Hedwig Wölfl ist Psychologin, Psychotherapeutin und Leiterin der Kinderschutzorganisation Die Möwe und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Problematik.

Der Mann, der Mädchen ungefragt ein Foto von seinem Penis schickt, oder der Klavierlehrer, der mal schaut, ob sich das Kind wehrt, wenn er die Hand auf den Oberschenkel legt – sexueller Missbrauch bahne sich immer stufenweise an, so Wölfl. "Es gehört zur Strategie von Tätern, immer wieder zu schauen: Was geht jetzt noch?", sagt sie.

Fühlen sich Menschen von Bildern oder der Präsenz von Minderjährigen sexuell erregt, spricht man von Pädophilie. Das sei eine Störung der Sexualpräferenz, erklärt Wölfl. Zwischen 20 und 25 Prozent aller Männer weisen ein Risiko auf, auch Minderjährige sexuell erregend zu finden. Die überwiegende Mehrheit handelt allerdings nicht nach dieser Störung. Es seien vorwiegend Männer betroffen, aber es gibt auch ein Dunkelfeld an Frauen, bei denen das Thema noch tabuisierter ist, berichtet Wölfl. Sie sagt aber auch: "Die meisten Täter im Falle sexuellen Missbrauchs sind nicht eindeutig pädophil, sondern missbrauchen ihre Macht."

STANDARD: Wie ist der Mechanismus bei Pädophilie? Entwickelt sich diese Störung der Sexualpräferenz über Jahre hinweg oder sind manche eher dazu veranlagt?

Wölfl: Das ist schwer zu sagen, dazu gibt es auch noch nicht genügend Forschung. Wahrscheinlich gibt es eine Wechselwirkung zwischen Anlage und Sozialisierungsfaktoren wie Bindungserfahrungen oder selbst erlebter sexueller Gewalt. Vor allem in einer Welt der bildgeleiteten Sexualität sind wir alle verschiedensten Einflüssen ausgesetzt. Manche Menschen entwickeln dabei eine abnorme, gefährliche und nicht sozialverträgliche sexuelle Präferenz. Ein erstes Anzeichen ist die Wahrnehmung der eigenen Erregung beim Betrachten, Beobachten oder einfach in der Präsenz von Kindern und Jugendlichen und nicht bei gleichaltrigen Personen.

STANDARD: Welche Unterschiede gibt es bei Betroffenen?

Wölfl: Es gibt Menschen, die die sexuelle Störung als solche wahrnehmen und sehr darunter leiden, weil sie nicht zu Tätern werden möchten. Und dann gibt es welche, die sich da auch ein Stück weit hinziehen lassen und willentlich etwas beitragen und kriminell werden. Zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn habe ich im Gefängnis gearbeitet. Unter den Insassen sind die pädophilen Straftäter in der Hierarchie ganz unten. Sie erleben häufig sehr viel Abwertung und Übergriffe, während sie selbst das Gefühl und die Ausrede haben: "Ich habe mir das doch nicht ausgesucht."

Bei den meisten Missbrauchshandlungen spielt allerdings Machtgefälle eine entscheidende Rolle. Oft geht es um ein Ausnutzen der eigenen Überlegenheit, sei es durch die berufliche Position, das Alter, die körperliche Stärke. Wir wissen, dass die meisten Täter bei sexuellem Missbrauch nicht eindeutig pädophil sind, sondern ihre Machtposition missbrauchen.

STANDARD: Und es geht um eine weitere Abgrenzung: Nimmt man die Sexualstörung wahr oder handelt man auch danach? In der Therapie kann lediglich daran gearbeitet werden, nicht zum Täter zu werden, nicht aber das Krankheitsbild an sich geheilt werden, richtig?

Wölfl: Genau, es wird infrage gestellt, ob Pädophilie heilbar ist oder sein kann. Es braucht jedenfalls einen therapeutischen Prozess, der viel Disziplin erfordert. Man kann das mit anderen Suchterkrankungen vergleichen. Nicht zur Flasche zu greifen oder keine Drogen zu konsumieren, obwohl es ein Verlangen danach gibt, ist ein Lernprozess.

Der wirksamste Kinderschutz ist die Prävention. Therapeutische Programme für Menschen mit solchen abnormen, für andere potenziell extrem schädlichen Neigungen müssen ausgebaut werden, möglichst früh ansetzen und Betroffenen eine Hilfestellung geben, damit sie nicht zu Tätern werden.

Hedwig Wölfl leitet das Kinderschutzzentrum Die Möwe.
Foto: Sabine Klimpt / Die Möwe

STANDARD: Sei es das ungefragte Zusenden von Penisfotos oder der Konsum von entsprechenden Inhalten – beginnen Übergriffe oft im Netz?

Wölfl: Ja, digitalisierte Gewaltformen sind oft ein erster Schritt. Wenn ein Kind oder eine jugendliche Person das in einer Phase der eigenen sexuellen Identitätsentwicklung spannend findet und aus Neugier, Naivität oder Unaufgeklärtheit darauf einsteigt und ein Foto zurückschickt, kommt oft zurück: "Das hat mir gut gefallen, kann ich mehr davon sehen?" Digitaler Missbrauch wird juristisch zwar anders bewertet, aber es ist ein ähnlicher Prozess wie bei Missbrauchshandlungen im direkten persönlichen Kontakt.

Wir wissen, dass sich sexueller Missbrauch stufenweise anbahnt. Und jede Grenzüberschreitung erhöht das Risiko, dass auch Hands-on-Handlungen getätigt werden.

STANDARD: Abgesehen von der juristischen Bewertung – welchen Unterschied macht es aus Opferschutzperspektive, ob Missbrauch digital oder auch "Hands on", wie Sie sagen, stattgefunden hat?

Wölfl: Wir leben in einer Zeit, in der alles sexualisiert ist und der Konsum von Pornos im Mainstream angekommen ist. Der Begriff Kinderpornografie ist verharmlosend, es ist viel mehr eine Darstellung echten Kindesmissbrauchs. Wir sprechen hier von Kindern, an denen Straftaten begangen wurden und die nicht kontrollieren können, wie und in welchem Kontext sie dargestellt werden und welche Handlungen an oder neben ihnen oder bei ihrem Anblick vollzogen werden.

Aus Kinderschutzperspektive halte ich wenig von der Argumentation, dass Täter "nur" digital konsumiert hätten. Ja eh, aber der Konsum trägt jedenfalls dazu bei, dass Kinder auch real missbraucht werden. Der Konsum, Besitz und das Verbreiten kinderpornografischen Materials darf nicht bagatellisiert werden, denn es bedeutet immer sexuellen Missbrauch auf zwei Ebenen – einer realen und einer wiederholten digitalen.

STANDARD: Welche Rolle spielen Bilder und Videoaufnahmen im Opferschutz?

Wölfl: Wir beobachten im Kinderschutz mit Sorge, dass fast alle Fälle, mit denen wir betraut sind, in irgendeiner Weise bildliche Darstellungen inkludieren. Auch wenn die sexuelle Handlung vielleicht freiwillig war, werden oft Bilder oder Filme anderen unerlaubterweise zugänglich gemacht.

Ein Kollege aus dem kinderpsychiatrischen Bereich hat mir erzählt, dass es bei vielen Kindern, die wegen Suizidalität stationär aufgenommen werden, einen Zusammenhang gibt mit beschämenden Bildern im Netz. Man muss präventiv auf allen Ebenen tätig sein und möglichst früh schon aufklären, was das psychisch bedeutet, wenn die persönlichen Intimitätsgrenzen verletzt werden.

Wenn Betroffene wissen, dass bei Handlungen mitgefilmt wurde, wissen sie auch: Ihre Missbrauchserfahrungen werden dann von anderen noch einmal missbräuchlich verwendet. Das hinterlässt ein sehr beunruhigendes und unangenehmes Gefühl und eine Angst: Wo taucht das wieder auf? Bin ich da erkennbar?

STANDARD: Was können Opfer tun?

Wölfl: Es gibt in Österreich ein wirklich gutes Opferrecht. Alle Kinder und Jugendliche, die in irgendeiner Form Gewalt erfahren mussten, haben das Recht auf kostenlose, psychosoziale und juristische Prozessbegleitung. Wir begleiten auch schon zur Anzeige. (Anm.: Mehr dazu unten in der Infobox)

STANDARD: Wie geht es dann therapeutisch für Opfer weiter?

Wölfl: Es gibt kaum etwas, das in uns Menschen so viele heftige Emotionen auslöst wie sexueller Missbrauch: Ekel, Abscheu, Scham, Schuld und Angst. Auch Angehörige fühlen sich oft sehr hilflos und wollen bzw. können oft nicht wahrhaben, was ihrem Kind da passiert ist.

Wir erleben leider oft eine Verantwortungsumkehrungen, also "blaming the victim". Es kommen dann Sprüche wie "Na ja, vielleicht hast du's provoziert." Genau solche spielen den Tätern und ihrer Strategie in die Hände. Umso wichtiger ist es, den Opfern, ihren Eltern und ihrem Bezugssystem zu vermitteln: Was hier passiert ist, ist Unrecht. Das ist keinesfalls okay. Selbst wenn Jugendliche in einem digitalen Anbahnungsprozess eine Zeitlang beteiligt waren und beispielsweise ein Nacktfoto von sich selbst zurückgeschickt haben, bedeutet das nicht, dass sie Mitschuld haben, wenn dann Missbrauch stattfindet. Für diese Gewalthandlung ist immer der Täter verantwortlich zu machen.

STANDARD: Was bedeutet sexueller Missbrauch in jungen Jahren für das weitere Leben von Opfern?

Wölfl: Es geht darum, dass diese Kinder und Jugendlichen trotz dieser Erfahrungen lernen, wieder in einen bewältigbaren Alltag zu finden und gute Beziehungen und eine gesunde Sexualität leben können. Und da kann ich Mut machen, das kann mit traumatherapeutischer Hilfe sehr gut gelingen.

Manchmal ist es notwendig, zu einem späteren Zeitpunkt nochmal Dinge aufzuarbeiten. Oft kommen Betroffene Jahre später wieder zu uns, wenn sie die erste sexuelle Beziehung haben oder selbst Vater oder Mutter werden und dann manche verdrängte Kindheitserinnerungen nochmal hochkommen. Das macht auch Sinn, sich in so einer Phase noch einmal Hilfe zu suchen, um den Kreislauf zu unterbrechen und das kann, wie gesagt, sehr gut gelingen. (Magdalena Pötsch, 14.1.2023)