In den extremistischen Wellen, die über westliche Demokratien hinweggespült sind, haben die Institutionen standgehalten. Donald Trump und Jair Bolsonaro wurden gewählt und wieder abgewählt. Emmanuel Macron gewann zweimal gegen eine Rechtsextremistin. Nach dem Brexit und Orgien der Inkompetenz tapsen die Tories wieder in die Realität zurück.

Israel könnte das erste Land sein, in dem die Institutionen einstürzen. Der nüchterne Chefredakteur der renommierten Tageszeitung Haaretz, Aluf Benn, schrieb, dass Benjamin Netanjahu, in seiner dritten Inkarnation als Premier, seine alte Fantasie erfüllen und dem liberalen, demokratischen Israel den K.-o.-Schlag versetzen würde.

Israel wird effektiv vielleicht einen ähnlichen Weg gehen wie Ungarn oder die Türkei, aber mit anderen Vorzeichen. Die üblichen populistischen Opportunisten der Macht haben sich mit denjenigen verbündet, die Israel in eine Theokratie verwandeln wollen.

Benjamin Netanjahu will dem liberalen, demokratischen Israel den K.-o.-Schlag versetzen.
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Die Regierung Netanjahu hat 64 der 120 Abgeordneten in der Knesset, dem israelischen Parlament. Die Hälfte davon sind Anhänger der religiösen Parteien. Diese setzen sich aus drei Lagern zusammen. Die größte Gruppe sind die Religiösen Zionisten, die seit dem Sechstagekrieg die Ansprüche der Siedler in den Palästinensergebieten der West Bank vertreten. Die populistische Shas-Partei vertritt die orthodoxen Mizrahi, ärmere und bildungsfernere jüdische Immigranten aus der arabischen Welt und dem Iran. Die ultraorthodoxen Haredi repräsentieren Gemeinschaften in und um Jerusalem, die sich vom Rest des Landes abschotten. Gemein ist ihnen zunehmend ein radikaler Nationalismus, der die Rückgabe von Gebieten ausschließt, die laut der Bibel den Juden zustehen, sowie eine Änderung der Gesetzgebung, um orthodoxe Prinzipien umzusetzen.

Nicht rechts, nicht links

Man kann diese religiösen Parteien nicht rechts nennen und, obwohl sie durchaus üppige Sozialausgaben befürworten, auch nicht links; diese Unterscheidung gibt es seit der Französischen Revolution. Stattdessen rekurrieren sie auf die frühere Unterscheidung der Aufklärung, nämlich den Gottesstaat als Gegenentwurf zu einem säkularen Staat, in dem die Religion Privatangelegenheit ist.

89 Prozent aller Haredi, zum Beispiel, glauben, dass, wenn es einen Konflikt gibt zwischen den Gesetzen des Staates und der Halacha, der rechtlichen Überlieferung des Judentums, die religiösen Gesetze Priorität haben. 80 Prozent der Bevölkerung Israels sind Juden, die Hälfte davon säkular, und nur circa 18 Prozent stark religiös. In der neuen Regierung Netanjahus dominieren sie die Agenda.

Eines der ersten Projekte der neuen Regierung ist eine Änderung der Grundgesetze durch die Einführung einer Überstimmungsklausel. Die Knesset wird damit das Recht haben, Urteile des Obersten Gerichts mit einer einfachen Mehrheit zu überstimmen. Damit wäre dem Gericht die Möglichkeit genommen, Gesetze zu verhindern, die mit den Grundgesetzen unvereinbar sind.

Viele schauen gebannt auf die Macht der lauten, aggressiven Nationalisten in Netanjahus Regierung. Was wir sehen, ist eine theokratische Machtübernahme in Zeitlupe. Die Demokratie wankt in ihrer einzigen Bastion in der wohl instabilsten Region der Welt. (Veit Dengler, 15.1.2023)