Stephan Lessenich leitet das Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS), wo man die Soziologie traditionell als Demokratisierungswissenschaft versteht.

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Was passiert, wenn die bisherige Normalität nicht mehr gilt? Wenn nicht nur Individuen, sondern ganze Gesellschaften akzeptieren müssen, dass es nie mehr so wird, wie es war? Was dann? Der renommierte Gesellschaftsanalytiker Stephan Lessenich widmet diesen Fragen sein neues Buch mit dem Titel Nicht mehr normal. Gesellschaften am Rande des Nervenzusammenbruchs.

STANDARD: Seit wann ist unsere Gesellschaft nicht mehr normal? Wo war der große Bruch?

Lessenich: Ich würde sagen, den Rest hat uns die Pandemie gegeben. Sie hat wirklich einen Sonderstatus. Das war – jedenfalls in den privilegierteren Weltregionen – die erste Krise, die wirklich für alle Bürgerinnen und Bürger in ihrer Lebensführung hautnah spürbar wurde. Für uns war das eine neue Erfahrung, anders auch als die Finanzkrise oder die Migrationsbewegungen Mitte der 2010er-Jahre, die die meisten von uns aus dem Fernsehen kannten, aber nicht wirklich am eigenen Leib erfahren haben. Selbst der Ukraine-Krieg ist für uns, obwohl so nah, ein Abstraktum, das wir in eine drohende Energiekrise übersetzen.

STANDARD: Was heißt überhaupt "normal" im Zusammenhang mit Gesellschaft? Muss das nicht per se ständig neu ausverhandelt werden?

Lessenich: Absolut. Es ist auch immer eine Projektion, häufig rückwirkend, indem man angesichts von Umbrüchen im Nachhinein für sich eine Normalitätsvorstellung schafft. Aber Normalitäten sind gesellschaftlich umkämpft und im Fluss. Nur war die Krisenhaftigkeit von Gesellschaft bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts weniger unmittelbar spürbar, und bestimmte Dinge waren tatsächlich verlässlich und erwartungssicher, weil wir uns von einigen Entwicklungen in der Welt noch abkapseln konnten. Etwa die Energiefrage – es war selbstverständlich, dass der Strom aus der Steckdose, das Gas aus der Therme kommt. Das war gelebte Normalität. Es gab bestimmte Erwartbarkeiten und Regelmäßigkeiten gesellschaftlicher Praxis. Das ist heute anders.

STANDARD: Sie greifen als Soziologe zu Begriffen, die man eigentlich der Psychologie zuordnen würde, wie Nervenzusammenbruch oder "strukturelle Nervosität" der Gesellschaft. Warum?

Lessenich: Diese Gesellschaft hat lange Zeit alles dafür getan, um sich von Realitäten abzuschotten. Das setzt auch eine bestimmte massenpsychologische Disposition voraus, nämlich dass wir alle gemeinsam bereit sind, auszublenden, zu verdrängen, ja, gegenüber bestimmten Dingen indifferent zu sein. Eine kollektive Haltung, als ob wir sozusagen auf einer Insel lebten und das, was hier passiert, gestalten könnten – und das, was außen ist, weitgehend ausblenden. Da gab es in den letzten Jahren einen Einbruch der Realität. Plötzlich erleben wir, dass da draußen Viren sind, die uns auch treffen können, dass da Krieg ist, der zu uns kommen kann, dass es Energie- und Ressourcenkonflikte gibt, deren Teil wir jetzt auch sind. Die Umgangsweisen mit diesem Realitätsschock sind kollektivpsychologische Phänomene, darum der Nervenzusammenbruch. Mit der Pandemie und dem Ukraine-Krieg ist das Fass übergelaufen. Jetzt ist klar: Verdrängen ist keine Lösung.

STANDARD: Reagiert die Politik auf diesen Einbruch der Realität adäquat? Es sieht doch eher so aus, als wollten viele Regierungen sich und uns noch etwas Aufschub erkaufen und die Konfrontation mit der neuen Realität noch verzögern?

Lessenich: Ja, in der Tat. Wenn jetzt Energie teurer wird, ist die naheliegende politische Lösung, wenn man über das Geld verfügt, die privaten Haushalte nach mehr oder weniger gerechten Prinzipien zu entlasten und möglichst am Gewohnten festzuhalten, statt zu sagen: Wir müssen unser Energieregime radikal umstellen, nicht nur auf erneuerbare Energien, sondern auf massiv weniger Energieverbrauch. Ich würde die Politik da aber in gewisser Weise in Schutz nehmen, weil ich glaube, es gibt ein stilles Einvernehmen zwischen Politik und gesellschaftlichen Mehrheiten, genau das zu tun: keinen Bruch mit unseren bisherigen Lebensformen, unserer Produktions-, Konsum- und Arbeitsweise, der Organisation dieser Gesellschaft herbeizuführen. Fast niemand möchte diesem radikalen Veränderungsbedarf tatsächlich ins Auge sehen.

STANDARD: Wenn es nicht mehr normal ist, wie wir leben, müssen wir uns eine neue Normalität schaffen. In der Soziologie spricht man von "Normalisierungspraktiken". Wie laufen die ab?

Lessenich: Man kann das gut am derzeit so umstrittenen Thema Gender erklären. Es gab die Normalität von Zweigeschlechtlichkeit und lange Zeit auch, dass sich Männer und Frauen verpaaren. Diese Regelmäßigkeit von Heterosexualität und verschiedengeschlechtlicher Paarbildung geriet langsam, aber sicher ins Wanken. Es gab immer öfter Gegenbewegungen in der alltäglichen Praxis der Leute. Homosexuelle Paare, die auch ihren Kinderwunsch leben wollten. Da musste die Gesellschaft ihre Normalitätsvorstellungen von Sexualität, Zweigeschlechtlichkeit und Familienbildung nach und nach anpassen, aber unter einer hohen Konfliktivität. So wie jetzt bei der Frage: Wie viele Geschlechter gibt es, wie viele soll es geben? Da erleben wir neue Normalisierungspraktiken und massive Widerstände von denen, die den Bruch mit bisherigen Selbstverständlichkeiten nicht akzeptieren wollen. So ähnlich wird man sich das auch mit unserer neuen Energienormalität vorstellen müssen. Das sind massive Umstellungen. Und dieser langwierige Prozess wird noch umkämpfter sein, wenn ausgesprochen wird, dass wir unseren Energieverbrauch mindestens halbieren müssten.

STANDARD: Wir sehen, dass diese komplexen De- und Re-Normalisierungsprozesse unsere Gesellschaften enorm strapazieren. Welche Rolle spielen dabei die sozialen Ungleichheitsachsen?

Lessenich: Neue Normalitäten fordern radikale Anpassungen, und wer in machtvollen Positionen oder besser mit ökonomischen Ressourcen, Bildungskapital und sozialen Netzwerken ausgestattet ist, ist grundsätzlich besser positioniert, um das auch zu leben. Das Affektive dieser Situation, den Nervenzusammenbruch, sehen wir an der Gereiztheit der öffentlichen Debatte. Soziale Medien sind da eher die technologische Möglichkeit, diese Gereiztheit auszudrücken und vielleicht auch noch zu verstärken. Aber der Affekthaushalt der Gesellschaft hat sich unabhängig davon in Bewegung gesetzt, weil die Krisenhaftigkeit deutlicher wird. Darum haben unsere Auseinandersetzungen, egal, ob es um Maske tragen oder Gendersternchen geht, ein Erregtheits- und auch Aggressivitätsniveau erreicht, das wir vorher nicht kannten. Die Verhältnisse selber haben sich spürbar verroht.

STANDARD: Was bedeuten hypernervöse Zeiten für die Politik? Sie sprechen von "Affektpolitik".

Lessenich: Es gibt einen Gefühlshaushalt der Gesellschaft. Mit dem muss Politik umgehen. Das tut sie auch ständig. Politische Akteure richten sich auch nach der gefühlten Stimmung im Land. Wir sehen, dass im gesellschaftlichen Gefühlshaushalt einiges in Wallung geraten ist. Angesichts der Krisen, spätestens seit Corona, liegen die Nerven wirklich blank. Politik steuert diesen Gefühlshaushalt aber auch. Sie kann dramatisieren oder entdramatisieren, mehr rational oder mehr affektiv mit den Wallungen der Gesellschaft umgehen. Was wir gegenwärtig spüren, ist, dass auch die Formen des rationalen Umgangs mit dem Affekthaushalt der Gesellschaft, wie sie etwa in Deutschland Angela Merkel praktiziert hat, nicht mehr greifen. Es gibt die Erwartung, dass die Emotionen, die gesellschaftlich hochkochen, auch in der Politik ankommen und einen lebendigeren Umgang mit gesellschaftlichen Problemen auslösen. Vielleicht wäre das nicht das Schlechteste. (Lisa Nimmervoll, 16.1.2023)