Belarus ist in diesem russischen Invasionskrieg viel: Aufmarschgebiet, Übungsplatz und nicht zuletzt der vermutlich letzte wirklich eiserne Partner der Russischen Föderation in Europa. Die Entwicklungen im von Diktator Alexander Lukaschenko mit harter Hand regierten Land werden in Kiew deshalb stets mit besonderen Argusaugen beobachtet – immerhin trennt die Ukraine und Belarus eine Grenze von insgesamt 1.084 Kilometern Länge.

Schon zu Beginn der Invasion wollten die Kriegsherren im Kreml die belarussische Abkürzung nach Kiew nehmen – und scheiterten damit. Zuvor aber wurden im nördlichen Nachbarland der Ukraine Truppen für gemeinsame Übungen zusammengezogen – es waren Vorboten des einsetzenden Kriegs. Logisch, dass sich da bei jeder großen gemeinsamen Übung der Militärs von Russland und Belarus in Kiew Nervosität breitmacht.

Vor einem Jahr sorgte die gemeinsame Militärübung für Sorge über eine bevorstehende Invasion der Ukraine. Letztlich kam es auch so.
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Zwei Wochen lang, von Montag bis 1. Februar, werden die aktuellen Manöver andauern. Neben den beiden Heeren werden vor allem die Luftwaffen beider Länder einen zentralen Punkt der Übungen einnehmen – alles aber rein defensiv, wie Minsk und Moskau nicht müde werden zu behaupten. Neben Landeübungen soll vor allem auch die Unterstützung von Bodentruppen, etwa deren Nachschub mit Munition, aber auch deren Evakuierung, geprobt werden. Die gesamte Luftwaffe und alle Standorte der Luftwaffe seien involviert und aktiviert, hieß es.

Bereits seit Jahresbeginn kursieren im Internet etliche Videos oder Nachverfolgungen der Flugrouten, die etwa die Verlegung von russischen Kampfflugzeugen, Hubschraubern, Militärtransportflugzeugen und Fahrzeugen zeigen. Mehrere Su-30M und Su-34-Kampfflieger wurden etwa nach Belarus geflogen.

Es ist jedoch keinesfalls die erste derartige Übung seit Kriegsbeginn. Und es wird nicht die letzte bleiben. Insgesamt werde man heuer als Vorsitzland drei gemeinsame Übungen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ausrichten, gab Belarus bekannt. Neben Russland und Belarus sind auch Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Armenien Teil des Verteidigungsbündnisses. Zumindest letzterem Staat vkonnte die Organisation in dessen Krieg gegen Aserbaidschan aber kaum zur Seite stehen.

Vermeintliche und tatsächliche Provokationen

Während sich die Ukraine von der regelmäßigen Beihilfe zu russischen Kriegsverbrechen im eigenen Land vom Nachbar Belarus zu Recht bedroht fühlen kann, versucht sich Minsk schon seit geraumer Zeit in der Täter-Opfer-Umkehr. So schrieb etwa der erste stellvertretende Staatssekretär des belarussischen Sicherheitsrats, Pawel Murawejko, auf Telegram, die Ukraine habe Belarus provoziert. Man reagiere aber immer noch zurückhaltend. "Wir verfügen über die notwendigen Kräfte und Mittel, um auf jegliche Manifestationen einer Aggression oder einer terroristischen Bedrohung auf unserem Territorium zu reagieren."

Aus dem Kreml werden die Spekulationen über einen endgültigen und offiziellen Eintritt von Belarus als Kriegspartei derweil als "gegenstandslos" und "dumm" bezeichnet. Man dränge den Verbündeten Belarus damit geradezu zu einer größeren Beteiligung.

Su-35S-Kampfjets üben Bombenabwürfe.
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Dass die Ukraine genau dies nicht möchte, scheint nur logisch. Nicht nur würde es einen ordentlichen Nachschub an zur Verfügung stehendem Material und Personal bedeuten. Eine zusätzliche Nordfront würde die angestrebten Gegenoffensiven Kiews im Osten und Süden des Landes aber erheblich erschweren, weil Ressourcen anderswo gebunden werden – wenn man etwa einen Überfall auf Schytomyr oder eine versuchte Einnahme des Kernkraftwerks Riwne im Nordwesten des Landes verteidigen müsste.

Selbiges gilt aber auch für Russland, dessen "strategischer Rückzug" aus Cherson ja auch zeigte, dass man eigentlich mit der Verteidigung der aktuellen Front im Osten mehr als ausreichend beschäftigt ist.

Unterbrechung des Nachschubs?

Ein Grund, der für ein militärtaktisch hochriskantes neuerliches Abenteuer Russlands (eventuell mit belarussischer Beteiligung) im Norden spricht, wäre der Versuch, den Nachschub westlicher Waffen an die Ukraine zu unterbrechen oder gar abzuschneiden. Ob Russland derzeit über die Kapazitäten verfügt, eine solch heikle Aktion durchzuführen, scheint jedoch unklar. Wäre man sich über Kapazitäten und Fähigkeiten gewiss, wäre der Einsatz wohl schon erfolgt.

Diktator Lukaschenko bei den letztjährigen Übungen.
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Dass Russland eine neuerliche Invasion aus dem Norden als reines Ablenkungsmanöver einsetzt, scheint zudem unlogisch. Zu sehr stehen die Militärkommandos ob der mangelnden Erfolge während der gesamten Operation bereits unter Druck. Eine weitere Invasion müsste also nicht nur realistisch und mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgreich sein, sie müsste wohl auch ohne zu erwartende Einbußen der Fähigkeit an der Dnjepr-Front im Osten daherkommen. Danach sieht es derzeit nicht aus. Noch dazu, wo die Gegend im Norden ob weicher und feuchter Böden als logistisch besonders schwierig zu erobern gilt.

Ukrainische Truppen bei Übungen nahe Schytomyr.
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Und auch wenn das renommierte US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) derzeit "ungewöhnliche Aktivitäten, welche die Informationen bezüglich einer russischen Invasion aus dem Norden intensivieren", erkennt, so sagt das ISW auch, dass eine neuerliche Offensive zum aktuellen Zeitpunkt immer noch eine geringe Wahrscheinlichkeit habe. Sehr wohl aber werde Russland seine Präsenz in Belarus bis zum September 2023 nochmals verstärken, wenn mit den üblichen großen Militärübungen der beiden Staaten im Herbst zu rechnen ist.

Russlands Präsident Wladimir Putin hat offenbar realisiert, dass es mit einem schnellen Krieg in der Ukraine nichts wird. Er scheint aus diesem Grund auf eine Langzeitstrategie zu setzen und ist offenbar nun auch zu einem langen Krieg bereit. Daher ist es durchaus möglich, dass die Angst vor der neuerlichen Invasion entlang der langen ukrainisch-belarussischen Grenze Generäle in Kiew noch länger umtreiben wird. Ob sie nun kommt oder nicht. (Fabian Sommavilla, 16.1.2023)