Ein Prozent – so groß ist der Unterschied zwischen Schimpansen und Menschen, wenn es um die DNA geht. Der entscheidende Faktor, der aus verwandten Spezies im einen Fall Tiere ohne Fähigkeit zu Schriftlichkeit, komplexer Sprache oder zum Errichten von Bauwerken oder Verwaltungsstrukturen macht, im anderen Fall Menschen und mit ihnen die ganze Welt der Wissenschaft und Kultur, muss irgendwo in diesem einen Prozent des Genoms liegen.

Nun fördert eine neue Studie eine weitere Überraschung zutage. Ausgerechnet jene Bereiche der DNA, die sich besonders von der DNA unserer nächsten Verwandten unterscheiden, haben vielfach hemmende Wirkung auf die Hirnentwicklung. Das berichtet nun ein Team um die Genetikerin Katie Pollard in einer kürzlich im Fachjournal "Neuron" veröffentlichten Arbeit.

Zirkusdirektor Klaus Köhler mit dem Affen Robby. Die Haltung von Zirkustieren steht zunehmend in der Kritik. Dass Menschen überhaupt in der Lage sind, Affen in Gefangenschaft zu halten und nicht umgekehrt, liegt an einem Bruchteil des Erbguts.
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Konkret untersuchte Pollards Team, das an den Gladstone Institutes in San Francisco forscht, Bereiche der DNA, die sich bei der Entwicklung des Menschen besonders schnell veränderten, sogenannte HARs, ein Kürzel, das zu Deutsch für "beim Menschen beschleunigte Regionen" steht. HARs sind Bereiche der DNA, die über lange Zeiträume der Evolution in verschiedensten Spezies unverändert blieben, beim Menschen aber eine rasante Entwicklung erfuhren und deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit für Eigenschaften stehen, die uns so typisch menschlich machen.

Die HARs wurden 2006 von Pollard entdeckt. Bei den meisten dieser Unterschiede handelt es sich nicht um Gene, sondern um regulatorische Faktoren, die über die Aktivität von benachbarten Genen entscheiden. Es überrascht nicht, dass einige der in den HAR-Regionen liegenden Gene entscheidende Funktion für die Hirnentwicklung haben. Andere Bereiche werden mit der Entwicklung des Daumens in Verbindung gebracht.

Hemmende Wirkung

Ausgangspunkt der nun veröffentlichten Arbeit war zu untersuchen, wie sogenannte Enhancers, die das Ablesen von für die Hirnentwicklung wichtigen Genen verstärken, mit den HARs in Verbindung stehen. Es wäre plausibel gewesen, in den HARs überwiegend eine verstärkende Wirkung zu finden. Bei der Untersuchung von 2.500 HARs zeigte sich zwar, dass manche der DNA-Sequenzen tatsächlich Enhancers sind, 43 Prozent aber eine entgegengesetzte Wirkung haben.

Statt wie sonst in der Genetik auf "Mausmodelle" zu setzen, bei denen Mäuse gentechnisch verändert werden, gelang die Untersuchung mithilfe von künstlicher Intelligenz. "Diese Ergebnisse erforderten hochmoderne Werkzeuge des Maschinenlernens, um Dutzende neuartiger Datensätze zu integrieren, die von unserem Team generiert wurden", erklärt Pollards Kollege Sean Whalen, der auch Erstautor der nun erschienenen Studie ist.

Um sicherzugehen, dass die mit dem Computer gewonnenen Ergebnisse korrekt sind, wiederholte das Team die Untersuchung zuerst mit einem alternativen Algorithmus für maschinelles Lernen. Daraufhin wechselte man ins Labor. Gemeinsam mit einem Team der University of California in San Francisco gelang es, die HARs in Vorläuferzellen der Nervenzellen von Affen und Menschen mit einer Art von genetischem Barcode zu kombinieren. Jedes Mal wenn der betreffende DNA-Bereich aktiv war, wurde beim Ablesen eine spezifische RNA-Sequenz erzeugt, die sich im Labor nachweisen ließ und Aufschluss über die Aktivität gab. Das Ergebnis ließ sich auch hier bestätigen.


Was uns menschlich macht, ist umstritten. Während hochentwickelte analytische Fähigkeiten eine typisch menschliche Eigenschaft sind, meint der Begriff "Menschlichkeit" meist Eigenschaften wie Empathiefähigkeit oder Moral.
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Überbordende Hirnentwicklung

Der Fund stellt die Forschenden allerdings vor ein Rätsel. Warum hemmt die typisch menschliche DNA teilweise die mit der Hirnentwicklung in Verbindung stehenden Gene? Und: Würden wir ohne diese Hemmung noch menschlicher, quasi zu Übermenschen werden? Pollard hat eine Theorie: Es sehe so aus, als würde überzogene Menschlichkeit im genetischen Sinn zu Problemen führen, weshalb das gleichzeitige Auftreten hemmender genetischer Eigenschaften einen Selektionsvorteil bot. "Eine anfängliche Änderung eines HAR könnte seine Aktivität zu stark erhöht haben, sodass sie heruntergedreht werden musste", erklärt Pollard.

Sie vermutet einen Zusammenhang mit einer anderen Theorie: dass die menschlichen kognitiven Fähigkeiten die Neigung zu psychischen Krankheiten als Nebeneffekt mit sich bringen. Ein Aufheben der widersprüchlichen Effekte könnte also weniger Übermenschen mit überlegenen analytischen Fähigkeiten, sondern Menschen mit verstärkter Neigung zu psychischen Krankheiten hervorbringen. Pollard spricht von "kompensatorischer Evolution", betont aber, dass es sich in diesem Fall nur um eine Theorie handelt.

"Wir können nie die Uhr zurückdrehen und genau wissen, was in der Evolution passiert ist", sagt Pollard. Aber mit Experimenten wie diesem lasse sich herausfinden "welche DNA-Veränderungen am ehesten einzigartige Aspekte des menschlichen Gehirns erklären, einschließlich seiner Neigung zu psychischen Erkrankungen". (Reinhard Kleindl, 18.1.2023)