Der moderne Mensch kam von Norden nach Amerika – das zumindest besagt eine von archäologischen Funden und DNA-Analysen einigermaßen gut untermauerte Theorie. Die ersten Siedler, so die These, waren gegen Ende der letzten Kaltzeit aus dem Norden entlang der allmählich eisfreien Küsten der Landbrücke Beringia auf den neuen Heimatkontinent gekommen. Wie die Einwanderungsrouten ausgesehen haben mochten und wann sich die ersten Siedler bis nach Amerika vorgewagt haben, darüber herrscht noch großes Rätselraten. Auch woher in Asien genau die Menschen ursprünglich kamen, ist umstritten.

Für ein detaillierteres Bild liefern genetische Untersuchungen kostbare Hinweise, doch um verwandtschaftliche Beziehungen zu asiatischen Kulturen herzustellen, braucht es entsprechendes Vergleichsmaterial – von dem gibt es nur sehr wenig. Die Kenntnisse über die Zusammensetzung der Bevölkerung Nordasiens während und nach der letzten Eiszeit sind äußerst lückenhaft, bisher wurde erste eine begrenzte Anzahl alter Genome aus der Region analysiert.

Viel unterwegs

Eine nun im Fachjournal "Current Biology" vorgestellte Genstudie könnte dabei helfen, diese Lücken zu schließen. Ein Team um Cosimo Posth Forscher hat die Genome von zehn bis zu 7.500 Jahre alten Individuen analysiert und dabei Verblüffendes festgestellt: Die bisher unbekannte Population im zentralasiatischen Altai-Sayan-Region belegt, dass Jäger- und Sammler in Sibirien und in anderen Teilen Nordasiens über große Distanzen mobil waren.

Die Gruppe sibirischer Menschen aus dem Neolithikum lebte in der Gegend des heutigen Vierländerecks Russland, China, Mongolei und Kasachstan. Die genetischen Daten zeigen, dass diese Individuen Nachkommen sowohl von paläosibirischen als auch von frühen nordeurasischen Menschen waren.

Blick auf das Tal im Altai, in dem sich die Nizhnetytkesken-Höhle befindet. Es ist der Fundort eines Individuums mit bemerkenswerten genetischen Wurzeln.
Foto: Universität Tübingen/Alexey A.Tishkin

"Wir beschreiben eine bisher unbekannte Jäger- und Sammlerpopulation im Altai, die bis zu 7.500 Jahre alt ist und eine Mischung aus zwei verschiedenen Gruppen darstellt, die während der letzten Eiszeit in Sibirien lebten", sagte Posth. "Die Altai-Jäger und -Sammler trugen zu vielen gleichzeitigen und späteren Populationen in ganz Nordasien bei, was zeigt, wie groß die Mobilität dieser Jäger und Sammler war.

Archaischer Knotenpunkt

Posth stellte fest, dass die Altai-Region auch als jener Ort bekannt ist, an dem erst vor wenigen Jahren eine neue archaische Homininengruppe, die Denisova-Menschen, entdeckt wurde. Auch in den folgenden Jahrtausenden sollte die Gegend für die Menschheitsgeschichte als Knotenpunkt für Bevölkerungsbewegungen zwischen Nordsibirien, Zentralasien und Ostasien von großer Bedeutung bleiben.

Das spiegelt sich auch in den Ergebnissen von Posth und seinen Kolleginnen und Kollegen wider: Die genetischen Daten aus dem Altai zeigten, dass es zwischen den Genpools der Menschen in Osteurasien spätestens seit dem frühen Holozän, also seit etwa 10.000 Jahren, häufig Austausch gab. "Eine solche Verbindung über große geografische Entfernungen hinweg ist bemerkenswert. Alles deutet darauf hin, dass menschliche Wanderungen und Vermischungen auch bei prähistorischen Jäger- und Sammlergesellschaften die Norm waren und nicht die Ausnahme", erklärte Posth.

Merkwürdiges "Nizhnetytkesken-Individuum"

Zur Überraschung der Forschenden stellten sie bei einer Einzelbestattung in der Region aus der Zeit der Altai-Jäger und -Sammler ein stark von diesen abweichendes genetisches Profil fest. Dieses wies vielmehr Ähnlichkeiten zu Populationen im Osten Russlands auf. Der als "Nizhnetytkesken-Individuum" bezeichnete Mann wurde in einer mit zahlreichen Grabbeigaben bestückten Höhle gefunden. Die Gegenstände wurden als mögliche Zeugnisse von Schamanismus interpretiert.

Das "Nizhnetytkesken-Individuum" aus einer mit zahlreichen Grabbeigaben bestückten Höhle im Altai sticht genetisch gesehen heraus.
Foto: Nadezhda F. Stepanova/ Universität Tübingen

"Das zeigt, dass in diesem Gebiet Menschen mit sehr unterschiedlichen genetischen Profilen lebten", sagt Ke Wang, Erstautorin der Studie von der Fudan-Universität in China. Es ist nicht klar, ob der bestattete Mann von weit her kam oder ob die Bevölkerung, aus der er stammte, in der Nähe lebte. "Seine Grabbeigaben scheinen sich jedoch von denen anderer archäologischer Fundorte zu unterscheiden, was darauf hindeutet, dass sowohl kulturell als auch genetisch unterschiedliche Individuen in die Altai-Region gezogen sind", so Wang.

Austausch mit Amerika

In der Publikation werden weitere Daten eines 7.000 Jahre alten Individuums aus dem Osten Russlands veröffentlicht, der genetische Verbindungen zu Jägern und Sammlern aus dem japanischen Archipel aufweisen. Und noch ein Fund illustrierte die große urzeitliche Mobilität. Archaische Genome von der Halbinsel Kamtschatka belegen, dass es zwischen den mittlerweile in Amerika lebenden Nachfahren der ersten Siedler und Nordostasien in den letzten Jahrtausenden einen bedeutenden Genfluss gab. Die Daten würden auf Wanderbewegungen in mehreren Phasen während der letzten 5.000 Jahre hinweisen. All das würde auf eine weitgehend vernetzte Bevölkerung in ganz Nordasien seit dem frühen Holozän hinweisen.

Die neu gewonnenen Informationen ergänzen an einigen Stellen das bestehende Bild, anderswo werfen sie neue Fragen auf, etwa über die Zusammenhänge zwischen bekannten genetischen Profilen und archäologischen Kulturen bei den sibirischen Jäger- und Sammlergruppen. Laut Posth gibt es in dieser riesigen geografischen Region noch große zeitliche Lücken, die durch weitere Forschungen geschlossen werden müssen. (tberg, red, 17.1.2023)