An der Börse wird, so sagt man, stets die zweite Ableitung einer Entwicklung gehandelt. Es zählt weniger, in welche Richtung sich etwas entwickelt, sondern mehr, inwieweit sich der Trend beschleunigt oder verlangsamt. So lässt sich vielleicht am ehesten erklären, warum chinesische Techaktien gerade eine der stärksten Rallys seit Bestehen hinlegen. Die Aktien des Online-Händlers Alibaba oder des Konzerns Tencent haben sich innerhalb der vergangenen zwei Monate fast verdoppelt. Warum? Weil das Schlimmste nun vorbei zu sein scheint.

Dabei sind die Nachrichten aus China derzeit nicht einmal besonders gut. Da ist zum einen Jack Ma, geschasster Alibaba-Gründer, der im Herbst 2020 mundtot gemacht wurde. Ma hatte das traditionelle Bankensystem kritisiert und so den Zorn Xi Jinpings auf sich gezogen. Der geplante Börsengang von Jack Mas Ant Financial wurde abgesagt. Ma verschwand in der Versenkung. Auch Tencent wurde eng an die Leine der Partei genommen. Zuerst hieß es: Chinesische Kinder verbringen zu viel Zeit mit Computerspielen. Der Konzern, dessen App Wechat im chinesischen Alltag allgegenwärtig ist, müsse eine Begrenzung einführen. Im Frühjahr 2022 hieß es, Tencent gehe zu lax mit den Nutzerdaten um. Die Aktienkurse fielen 2022 auf ein Fünf-Jahres-Tief.

Mit dem Ansinnen, Techkonzerne an die Leine zu nehmen, hat China Investoren abgeschreckt. Jetzt beruhigt sich die Lage.
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Hinzu kamen schlechte Wirtschaftsdaten aufgrund der rigiden Zero-Covid-Politik Chinas und Streitigkeiten mit den USA über Bilanzierungsvorschriften. All das drückte die Stimmung so sehr, dass die US-Investmentbank JPMorgan chinesische Aktien im März 2022 als "uninvestierbar" bezeichnete.

Jetzt also die Kehrtwende. Natürlich bringt die Wiederöffnung des Landes Kursfantasien mit sich. Der Konsum, der die wichtigste Säule der chinesischen Wirtschaft werden soll, litt in den vergangenen drei Jahren stark. Durch die Lockerungen und die wiedergewonnenen Reisemöglichkeiten von 1,3 Mrd. Menschen wird dieser Sektor stark anziehen.

Kontrolle, ohne Investoren abzuschrecken

Hinzu kommt: Die Kommunistische Partei scheint eine Möglichkeit gefunden zu haben, die großen Techkonzerne kontrollieren zu können, ohne Investoren abzuschrecken. In Zukunft gehören der KP ein Prozent der Unternehmen in Form sogenannter goldener Aktien. Diese "Special Management Shares" gibt es seit 2015. Hinter dem Anteilseigner steckt die Cyberspace Administration of China (CAC), die so Zugriff auf Online-Inhalte verschiedener Plattformen bekommt.

Damit will die Partei ihre Kontrolle über die Konzerne formalisieren. Bei Alibaba hat dies bereits stattgefunden. Das Prinzip soll bald auch auf Tencent und die Tiktok-Mutter Bytedance angewendet werden, was einer der Gründe für die aktuelle Rally sein dürfte: Investoren müssen weniger Willkür seitens des chinesischen Staates fürchten. Auch die Gelder der Wall Street scheinen wieder Richtung China zu fließen – obwohl sich an der Lage nichts verbessert hat. Aber es zählt die zweite Ableitung: Ab jetzt scheint es sich nicht mehr so schnell zu verschlechtern, und die Lage lässt sich einpreisen. (Philipp Mattheis, 17.1.2023)