Prekär beschäftigt: Vor allem Ö1-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter protestieren regelmäßig gegen ihre Arbeitsbedingungen.

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Wien – Die Debatte kommt für den ORF zur Unzeit, platzt sie doch mitten in die Diskussion über die künftige Finanzierung und die angespannte Finanzlage des öffentlich-rechtlichen Senders. Der ORF darf seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgrund einer gesetzlichen Sonderregelung unendlich oft mit befristeten Arbeitsverträgen beschäftigen. Diese Kettenverträge ersparen es dem ORF, die Beschäftigten längerfristig anstellen zu müssen, und ermöglichen prekäre Beschäftigungsverhältnisse in Permanenz, darauf weist die Ö1-Mitarbeiterin Jana Wiese hin.

Die gesetzliche Sonderregelung sorgt bereits seit langer Zeit für Unmut unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Vor allem Ö1-Journalistinnen und -Journalisten protestieren regelmäßig dagegen. Wiese hat jetzt Konsequenzen gezogen. Sie verließ Ö1 Ende des Jahres 2022 nach vier Jahren und 108 Beiträgen für Sendungen wie "Moment Kulinarium" oder "Help". Auch aus Angst, nicht krankenversichert zu sein und keine Planungssicherheit zu haben, sagt sie dem STANDARD. Sie habe eine Anstellung angestrebt – ohne Erfolg. Der ORF verweist auf STANDARD-Anfrage darauf, dass alle gesetzlichen Bestimmungen eingehalten wurden.

  • Update, 18. 1., 12.26 Uhr: SPÖ-Mediensprecher Jörg Leichtfried hat auf den STANDARD-Bericht mit einer Aussendung reagiert: "Es kann nicht sein, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit Verträgen arbeitet, die in anderen Branchen zu Recht nicht erlaubt sind. Diese extrem unfairen und prekären Beschäftigungsverhältnisse müssen ein Ende haben." Die ORF-Führung um Generaldirektor Weißmann sei ebenso gefordert wie Medienministerin Raab, " gesetzliche Bestimmungen im ORF-Gesetz anzupassen". Insbesondere Kettenverträge dürften "im größten Medienunternehmen des Landes, das von den Gebühren des Publikums finanziert wird, keinen Platz mehr haben, hier brauche es eine gesetzliche Änderung".

Jahrelang "Karotte vor der Nase"

Die Ö1-Journalistin begründete zuvor auf Twitter und in ihrem Blog "Zuckerbäckerei" ihren Abschied vom öffentlich-rechtlichen Radiokultursender und schreibt: "Ich bin es leid, für ein Unternehmen zu arbeiten, das es in Kauf nimmt, dass die eigenen Beschäftigten immer wieder mal nicht krankenversichert sind (wir haben immer noch Pandemie!). Ich bin es leid, für ein Unternehmen zu arbeiten, das sich nach außen so jung und divers gibt und gleichzeitig durch gesetzlich abgesicherte Vertragsstrukturen dafür sorgt, dass man es sich leisten können muss, dort zu arbeiten. Ich bin es leid, für ein Unternehmen zu arbeiten, das junge, engagierte Menschen in prekäre Arbeitsverhältnisse drängt und ihnen jahrelang die Karotte einer 'echten' Anstellung vor die Nase hält, die für die meisten aber doch nie Realität wird."

Wiese schildert, sie sei kein kein einziges Mal länger als 32 Stunden am Stück beschäftigt worden. "Überall sonst in Österreich wäre so ein Arbeitsverhältnis nicht möglich, doch § 32, Abs. 5 des ORF-Gesetzes erlaubt explizit eine unendlich wiederkehrende Befristung", so Wiese. Sofern die "vereinbarte oder tatsächlich geleistete Arbeitszeit während eines Zeitraumes von sechs Monaten im Monatsdurchschnitt nicht mehr als vier Fünftel des 4,3-Fachen der durch Gesetz oder Kollektivvertrag vorgesehenen wöchentlichen Normalarbeitszeit beträgt", könnten "befristete Arbeitsverhältnisse ohne zahlenmäßige Begrenzung und auch unmittelbar hintereinander abgeschlossen werden, ohne dass hierdurch ein Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit entsteht", heißt es im Gesetz.

Wiese: keine Planung möglich

Die Logik der Entlohnung pro Sendung, geregelt in einem Honorarkatalog, widerspreche außerdem dem "redaktionellen Alltag", kritisiert Wiese: "Wiederkehrende Redaktionssitzungen und Klausuren, bei denen Anwesenheit in der Regel erwartet wird, oder Recherchen über Wochen und Monate hinweg werden in Honoraren, die über ein paar wenige Tage laufen, nicht abgebildet." Geld gebe es – "außer in wenigen Ausnahmen" – nur für eine fertige, ausgestrahlte Sendung, so Wiese. "Ein konstantes Einkommen ist unter diesen Umständen schwierig zu erzielen, Planung über mehr als ein paar Monate hinweg unmöglich. Unfall, längere Krankheit oder Schwangerschaft können so zu einer existenziellen Bedrohung werden oder zumindest zu einer anstrengenden Bürokratieschlacht."

Wiese schreibt, dass sie zwei Mal mit funktionsloser E-Card bei Ärzten gestanden sei, weil sie über die Abmeldung von der Sozialversicherung nicht informiert wurde.

"Kurzfristig zermürbend, auf Dauer unerträglich"

Die Tätigkeiten "echter Angestellter" würden sich kaum von jenen anderer Beschäftigter unterscheiden. "Doch diese redaktionellen Stellen sind bei Ö1 mehr als rar und werden bei Pensionierung selten nachbesetzt, schon unter den Stellen der 'Freien' gibt es vertragliche hierarchische Abstufungen mit verschiedenen Levels an Prekarität", so Wiese. "So prekär beschäftigt zu sein ist kurzfristig zermürbend und auf Dauer unerträglich." Betroffen seien viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich zum Teil entweder mit der Situation abgefunden oder einfach zu wenig Energie übrig hätten, um sich gegen das System aufzulehnen.

Die "Kleine Zeitung" berichtet am Dienstag auch über den Fall und zitiert die Arbeitsrechtlerin Sieglinde Gahleitner. "Kettenbefristungen sind verpönt, weil sie dazu führen, dass man niemals in einen Kündigungsschutz kommt", erklärt sie, denn: "Wenn eine Befristung ausläuft, kann der Dienstnehmer nichts dagegen tun, es sei denn, die Beendigung erfolgte wegen einer Diskriminierung nach dem Gleichbehandlungsgesetz."

Kritik von Puls-4-Infochefin Milborn

Die Causa stößt auch bei Puls-4-Infochefin Corinna Milborn auf Kritik. Sie schreibt auf Twitter: "Wusstet ihr, dass der ORF – und zwar NUR der ORF – Journalist*innen prekär beschäftigen darf, in Kettenbeschäftigungen ohne durchgehende Sozialversicherung, ohne jegliche Sicherheit?"

Protestbrief vor der ORF-Wahl

Bereits im August 2021, wenige Tage vor der ORF-Generaldirektorenwahl, haben rund 40 junge ORF-Journalistinnen und -Journalisten in einem Brief an die ORF-Führung auf ihre "prekären Vertragsverhältnisse" aufmerksam gemacht – der STANDARD berichtete. "Viele von uns werden über Jahre hinweg mit befristeten Verträgen abgespeist", hieß es darin. "Unser Arbeitsalltag ist geprägt von (...) struktureller Benachteiligung gegenüber anderen Kolleg:innen und Perspektivenlosigkeit für unsere langfristige Lebensplanung."

"Für den Fall, dass ich nächste Woche zum Generaldirektor gewählt werden würde, würde ich mir natürlich jeden einzelnen Fall sehr genau anschauen", teilte damals ORF-Vizefinanzdirektor Roland Weißmann mit. Mittlerweile ist Weißmann ORF-Chef.

ORF: Beschäftigungen auf Basis des Gesetzes

Auf STANDARD-Anfrage teilt der ORF zum geschilderten Ö1-Fall mit, dass er Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter "ausschließlich auf gesetzlich korrekte Art und Weise, nämlich auf Basis arbeitsrechtlicher Bestimmungen", beschäftige. Und: "Die Vielfalt der Programme des ORF bedingt auch unterschiedliche Beschäftigungsverhältnisse, wie es sie in vielen Unternehmen gibt. Manche freie MitarbeiterInnen arbeiten nur fallweise im ORF, andere regelmäßig. Auch im konkreten Fall sind alle gesetzlichen Bestimmungen eingehalten worden, andere Behauptungen sind falsch."

Betriebsrat verlangt Überarbeitung des Honorarkatalogs

"Die Situation vieler freier MA im ORF ist seit Jahren schwierig bis prekär, ein allseits bekanntes Strukturproblem", erklärt Radio-Betriebsratschefin Gudrun Stindl auf STANDARD-Anfrage. Der Honorarkatalog, der die Grundlage für die Bezahlung der freien Mitarbeiter ist, gehöre "seit Langem überarbeitet und in einigen Bereichen deutlich angehoben". Der Betriebsrat fordere "gebetsmühlenartig" eine Überarbeitung des Katalogs für eine zeitgemäße Bezahlung ein, passiert sei bis jetzt nichts.

Anstellungen würden Mitarbeitern versprochen, aber nicht umgesetzt, erklärt Stindl. Sie führt das zurück auf seit den 2010er-Jahren "von der Politik aufgezwungene Sparpakete". Die jüngste GIS-Gebührenerhöhung mit Februar 2022 habe nur einen Teil des damals erwarteten Finanzierungsbedarfs abgedeckt. "Der andere Teil in Höhe von rund 200 Mio. Euro muss dagegen durch weitere Einsparungen finanziert werden." Nun belasteten Inflation und Energiekrise das ORF-Budget "enorm". Stindl: "Das Programm muss aber dennoch gemacht werden – wir haben schließlich gesetzliche Aufträge zu erfüllen und wir erfüllen sie mit Leidenschaft."

Die Situation sei nicht alleine unter den freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dramatisch, erklärt Stindl: "Auch angestellte Kolleginnen und Kollegen sind im Dauerstress und wissen nicht mehr, wie sie das Arbeitsausmaß leisten sollen. Die Folge sind Burnout, Herz-Kreislauf-Probleme und vieles mehr. In den letzten Jahren haben hunderte Kollegen das Unternehmen verlassen und wurden nicht nachbesetzt – das Programm wurde dabei aber ausgebaut, und es soll zudem noch eine Transformation in die digitale Zukunft gelingen."

Die Radio-Betriebsratschefin: "Wir brauchen als Mitarbeiter jetzt endlich ein Bekenntnis der Politik zum Qualitätsjournalismus, zum öffentlich-rechtlichen Auftrag. Und wir brauchen eine Klarheit über die Finanzierung des Unternehmens." (Oliver Mark, 17.1.2023)