Avraham Wolff ist dagegen, dass man die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine mit dem Holocaust vergleicht.

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Rabbi Avraham Wolff dient seit 1998 als Oberrabbiner von Odessa. Seit Beginn der russischen Invasion in der gesamten Ukraine im Februar 2022 pendelt er zwischen der Schwarzmeermetropole, der Republik Moldau, Rumänien und Deutschland. Dort kümmert sich der 52-Jährige sowohl um die in der Stadt verbliebenen Mitglieder der jüdischen Gemeinde als auch um Menschen, deren Flucht er und seine Mitarbeiter seit Kriegsausbruch bis heute organisieren.

Vor dem Holocaust beherbergte Odessa eine der größten jüdischen Gemeinden der Welt. Die Nazis und ihre rumänischen Verbündeten ermordeten eine Million ukrainische Juden und vernichteten die Glaubensgemeinschaft des Landes fast zur Gänze. Heute leben laut Wolff noch etwa 40.000 Juden in Odessa (das vor Kriegsausbruch knapp über eine Million Einwohner zählte), von denen bisher rund ein Viertel die Stadt verlassen haben dürfte.

Im STANDARD-Interview spricht Wolff über die Auswirkungen der russischen Invasion, den Nazi-Vorwurf gegen die Ukraine und die Zukunft der Juden in Odessa.

STANDARD: Rabbi Wolff, laut dem Kreml und seinen Propagandamedien wird die Ukraine seit fast einem Jahrzehnt von Nazis regiert. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie diese Botschaft hören?

Wolff: Der Ukraine Nazismus, Faschismus und Antisemitismus vorzuwerfen ist absolut lächerlich. Tatsächlich ist die Ukraine der beste Ort für Juden, um frei zu leben und zu tun, was immer sie wollen: Schulen eröffnen, Synagogen, Gemeindezentren und so weiter. Wie frei ukrainische Juden sind, spiegelt sich nicht zuletzt in der Politik wider. Der derzeitige Präsident, Wolodymyr Selenskyj, ist Jude und wurde von 73 Prozent der Bevölkerung gewählt. Vor ihm haben die Ukrainer Petro Poroschenko gewählt, der einen jüdischen Vater hat. Aber so lächerlich Putins Propaganda auch sein mag: Lustig ist sie nicht, weil wir alle gleichermaßen unter Russlands Angriffen leiden.

STANDARD: In der Ukraine gibt es eine Debatte darüber, ob Russlands Invasion einem versuchten Völkermord gleichkommt. Manche nehmen in diesem Zusammenhang sogar das Wort "Holocaust" in den Mund. Wie denken Sie darüber?

Wolff: Was in Butscha und anderen vom russischen Militär besetzten Orten in der Ukraine passiert ist, stellt ohne Zweifel ein Kriegsverbrechen dar. Aber es ist unmöglich, irgendetwas auf der Welt mit der Katastrophe zu vergleichen, die dem jüdischen Volk während des Zweiten Weltkriegs widerfahren ist. Der Holocaust war der Versuch einer gezielten Zerstörung der gesamten jüdischen Nation. Es gibt keinen Grund, ihn mit irgendetwas gleichzustellen. Einer der wenigen Fehler, die Selenskyj gemacht hat, war, als er vor dem israelischen Parlament sprach und diese Situationen miteinander verglich. Aber man kann diese Katastrophen nicht vergleichen, so furchtbar sie auch jeweils sind. Über jede Katastrophe muss gesprochen und die Opfer müssen betrauert werden, und wir sollten alle gemeinsam dafür kämpfen, dass sie nie wieder passieren. Aber es gibt keinen Grund und keine Notwendigkeit, sie gleichzustellen.

STANDARD: Bis zum Beginn der russischen Invasion in der gesamten Ukraine lebten 165.000 Juden in Russland. Nach Angaben der Jewish Agency, einer Organisation, die Juden auf der ganzen Welt hilft, nach Israel zu ziehen, haben seit März rund 20.500 von ihnen das Land verlassen. Haben Sie eine Botschaft für die Juden, die noch in Russland leben?

Wolff: Das ist nicht meine Aufgabe. Ich bin Rabbiner in Odessa. Meine Aufgabe ist es, den Menschen hier in meiner Gemeinde beizubringen, wie man richtig lebt, wie man die jüdischen Gesetze einhält, wie man Gutes tut. Wenn Sie mich also fragen, was die Juden in Russland tun sollen und was nicht, kann ich nur antworten, dass sie genau das machen sollen, was wir hier in Odessa tun: gute Dinge. Dinge, die Licht in die Welt bringen. Wenn sie die auch tun, werden das Böse und die Dunkelheit irgendwann von selbst verschwinden.

STANDARD: Manche Menschen in Westeuropa und den USA verstehen nicht, warum heute zahlreiche ukrainische Juden, darunter viele Soldaten, die schwarz-rote Fahne des militanten Flügels der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN-B), besser bekannt als Bandera-Flagge*, auf ihre Autos und Uniformen kleben. Was sagen Sie diesen Leuten eingedenk der Beteiligung tausender OUN-B-Mitglieder an den Nazi-Verbrechen in der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs?

Wolff: Ich sage ihnen, dass in der heutigen Ukraine alle möglichen Nationalitäten, Ethnien und Religionsgemeinschaften leben, aber dass wir ein Volk sind. Ich sage ihnen, dass alle von uns für unsere Freiheit, für unser Zuhause, für unsere Zukunft, für unsere Kinder und für uns selbst kämpfen. Diese Einteilung in Gruppen existiert seit dem 24. Februar 2022 nicht mehr. Seitdem sind wir alle vereint, und wir werden siegen, weil wir siegen müssen.

Deshalb spielen Flaggen für mich heute keine Rolle mehr, ob jüdische, ukrainische oder irgendwelche anderen. Ja, vor dem Krieg gab es vielleicht da und dort ein unterschiedliches Verständnis, eine andere Psychologie und Philosophie, wie die verschiedenen Gruppen von Ukrainern miteinander umgingen. Aber heute kämpfen wir alle vereint gegen das Böse und für ein Land, das allen seinen Menschen ermöglicht, frei und normal zu leben.

STANDARD: Laut Ihren eigenen Schätzungen hat seit Kriegsausbruch bis zu ein Viertel der jüdischen Einwohner Odessa verlassen. Wenn man bedenkt, dass die jüdische Gemeinschaft der Stadt schon vor dem Krieg sehr klein war: Wird Odessa langsam, aber sicher zu einer Stadt ohne Juden?

Wolff: Das wird niemals geschehen. Juden leben seit der Gründung der Stadt in Odessa. Der Urgroßvater meiner Frau war hier Rabbiner in einer Synagoge, und ich bin hier Rabbiner in einer Synagoge. Dieser Ort hat Zukunft. Die Ukraine wird nach dem Krieg ein wohlhabendes Land werden, vielleicht das beste in Europa. Wenn es floriert, werden viele neue Juden hierherkommen, die jetzt noch nicht hier leben, und diejenigen, die gegangen sind, werden durch die Neuankömmlinge ersetzt werden. Odessa war, ist und wird immer eine jüdische Stadt bleiben. (Klaus Stimeder, Mitarbeit: Luca Faccio, 19.1.2023)