In der Medizin wird künstliche Intelligenz sowohl bei Diagnosen als auch für die Entwicklung neuer Medikamente wichtig.
Foto: Illustration: Midjourney

Hunde haben erstaunliche Fähigkeiten. Sie lassen sich etwa zu Epilepsie-Warnhunden ausbilden. Die Tiere erkennen, wenn Menschen kurz vor einem epileptischen Anfall stehen. Dank der Warnung können sich die Betroffenen aus potenziell gefährlichen Situationen retten und das Verletzungsrisiko vermindern. Ob die Hunde die Anfälle dank ihres Geruchssinns oder durch eine Verhaltensänderung der Patienten erkennen, ist bis heute unklar.

Assistenzhunde als Inspiration

Für Forschende im Bereich künstlicher Intelligenz (KI) sind die Assistenzhunde eine Inspiration. Kann man ein System schaffen, das aufgrund der Vitaldaten eines Patienten eine Frühwarnung ausgibt? Günter Klambauer, KI-Experte an der JKU Linz, ist zuversichtlich. "Die Idee ist, Patienten mit tragbaren Sensoren auszustatten, die etwa Kreislauf- oder Hirnstromdaten aufnehmen", erklärt er. "Wir wollen ein System aufbauen, das in der Kombination dieser Werte subtile Muster erkennt, die einen Anfall vorausdeuten."

Aufgaben wie diese waren noch vor kurzem kaum vorstellbar. Mittlerweile ist künstliche Intelligenz aber auch bei komplexen Aufgaben in der Medizinforschung gut etabliert. Für Klambauer zählt der Gesundheitsbereich neben der Bild- und der Sprachverarbeitung gar zu den drei größten Anwendungsgebieten. Ein Bereich, in dem die neuen Algorithmen schon früh reüssierten, ist die Diagnostik auf Basis von Bilddaten. Sie erkennen etwa Tumoren auf Radiologieaufnahmen oder leiten mittlerweile auch andere, noch komplexere medizinische Information aus den Bildern ab.

Hilfe bei der Therapiewahl

Dazu kommen die Bereiche Genetik und personalisierte Medizin. KI-Systeme könnten künftig bei der Frage helfen, ob eine Therapie im individuellen Fall tatsächlich erfolgversprechend ist. Ein bedeutendes Anwendungsfeld ist die Entdeckung und Entwicklung neuer Wirkstoffe. "Künstliche Intelligenz hilft, bekannte Moleküle auszuwählen oder neue zu gestalten. Zudem unterstützt sie die Forschenden bei der Suche nach dem Syntheseweg, also der Bauanleitung für den Wirkstoff", zählt Klambauer auf.

Ärztliche Behandlung durch eine künstliche Intelligenz. So stellt sich das die Bild-KI Midjourney vor.
Foto: Midjourney

Zu einem Symbol für das KI-Potenzial in den Life-Sciences wurde 2021 die Anwendung Alphafold des Entwicklers Deepmind. Es kann die Proteinfaltung schnell und erstaunlich genau vorhersagen – ein Problem, das die Molekularbiologie seit Jahrzehnten beschäftigt. Die von der Abfolge von Aminosäuren abhängige 3D-Form dieser molekularen Maschinen, die überall in der belebten Natur vorhanden sind, bestimmt letztlich ihre Funktion. "Dieser Durchbruch wird auch großen Einfluss auf die Wirkstoffentwicklung haben", ist Klambauer sicher. Immerhin stehen etwa viele Krebserkrankungen im Zusammenhang mit einer Fehlfunktion der Proteinaktivität.

Suche nach Molekülen

Klambauer selbst arbeitet unter anderem an Werkzeugen, die eine Verbindung zwischen der Struktur eines Moleküls und dessen Wirkung herstellen. "Wir sind auf der Suche nach Wirkstoffen, die an bestimmten Positionen eines Proteins andocken, um ihre Aktivität zu verändern", sagt der Forscher. Seit kurzem engagieren sich Klambauer und Team auch am europäischen Ellis-Programm zum Thema "Machine Learning for Molecule Discovery". Geleitet von der JKU Linz vernetzen sich dabei europäische Forschungsinstitute wie die Universitäten Oxford und Cambridge, die ETH Zürich oder die Berliner Charité. Im gemeinsamen Forschungsprojekt wird etwa eine Anwendung entwickelt, die auf Basis weniger Vorgaben nach Molekülen mit bestimmten biochemischen Eigenschaften sucht.

Ein wesentlicher Trend, der auch im Ellis-Netzwerk sichtbar wird, ist laut Klambauer, dass Aufgaben mithilfe von unüberwachtem Lernen gelöst werden. Dabei wird dem System kein Muster vorgegeben, das es in den Daten wiedererkennen soll. Vielmehr soll es selbst nach auffälligen Mustern suchen. "Mit solchen Strategien kann man dem System grundsätzliches Wissen zum Anwendungsgebiet mitgeben, bevor man es in der Feinabstimmung schließlich auf eine konkrete Fragestellung trainiert", erklärt der KI-Forscher.

Unentbehrliche Trainingsdaten

Auch wenn solche Systeme erstaunliche Erkenntnisse hervorbringen, spiegeln sie letztlich immer auch die Qualität der Trainingsdaten wider, die ihnen zugrunde liegen. Im Bereich der Genetik haben die Bioinformatiker Sebastian Schönherr und Lukas Forer vom Institut für Genetische Epidemiologie der Medizinischen Universität Innsbruck daher einen Service entwickelt, der weltweit von Forschenden genutzt wird und eine Basis für große Studien am menschlichen Genom bietet.

Die Fähigkeit von Hunden, Epilepsie-Anfälle vorhersagen zu können, wollen Forschende ebenfalls mithilfe von künstlicher Intelligenz nachahmen.
Foto: Midjourney

Denn auch wenn die Sequenzierungstechniken weit fortgeschritten sind, ist es nach wie vor zu teuer, tausende Genome für eine Studie aufzuschlüsseln. Die Lösung liegt im mathematischen Verfahren der Imputation. Die beiden Forscher haben gemeinsam mit der University of Michigan eine Methode entwickelt, um aus einer – viel weniger aufwendigen – Genotypisierung ein vollständiges Genom zu machen. Das funktioniert, indem sie die "Lücken" automatisch mit statistisch hergeleiteten Daten auffüllen. "Für die Forschenden ist das eine große Kostenersparnis", sagt Schönherr. "Im Vergleich zur vollständigen Sequenzierung kommt man dank Imputation 50- bis 100-mal günstiger an die Gendaten."

Ein großes Anwendungsgebiet sind Assoziationsstudien, die Muster im Genom mit der Neigung zu bestimmten Erkrankungen verknüpfen. "Verschiedenste Positionen im Genom können Einfluss auf die Entstehung einer Erkrankung haben", erklärt Forer. "Im sogenannten Scoring wird eine Kennzahl erstellt, mittels der die Einflüsse gebündelt werden." Man erhält folglich Auskunft, wie sehr eine Genvariante das Entstehen einer bestimmten Krankheit wahrscheinlich macht.

Hilfe bei Risikoeinschätzung

Zu klären gilt, welche Genvarianten die Krankheitsentstehung eher beeinflussen als andere. "Der Zusammenhang zwischen Genvarianten und Krankheitsneigung ist nicht immer linear. Deshalb greift man bei der Bestimmung dieser Gewichtungen stark auf maschinenbasiertes Lernen zurück", sagt Forer. Während etwa bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen die Risikoangabe als Kennzahl bereits gut funktioniert, bleibt er in anderen Bereichen noch ungenau. Künftig könnte die Methode aber die medizinische Anamnese und die Frage nach familiären Vorprägungen ergänzen.

Abseits medizinischer Forschung kommen Patienten im Behandlungsalltag noch kaum mit künstlicher Intelligenz in Berührung. "Das Potenzial ist da. In der Praxis ist jedoch oft zu wenig Raum für neue Technologien, die organisatorisch und personell eingebettet sein müssen", sagt Klambauer. Die Hoffnung bleibt, dass zumindest das KI-Pendant zum Epilepsie-Warnhund bald Realität wird. (Alois Pumhösel, 19.1.2023)