Kommunikationswissenschafter Maximilian Gottschlich schreibt in seinem Gastkommentar über die Problematik der Nachrichtenvermeidung und wie der Journalismus darauf reagieren sollte.

Immer mehr Menschen fühlen sich von der Informationsflut überfordert und schalten geistig ab. Der ständige Umgang mit ungefilterten Informationsmassen kann zu kognitiver Überforderung und in weiterer Folge zur Informationsmüdigkeit führen.

Eine aktuelle Studie des Oxforder Reuters Institute zeigt, dass fast drei Viertel aller international befragten Führungskräfte aus dem Medienbereich gerade diese Newsmüdigkeit und ein Verhalten zunehmender Nachrichtenvermeidung bei Rezipienten als ihre größte Zukunftssorge ansehen. Diese Sorge besteht zu Recht, und sie sollte unser aller Sorge sein. Wir stecken mitten in einem Dilemma, das darin besteht, dass die uns existenziell betreffenden Informationen zwar rasant zunehmen, sie aber angesichts knapper Zeit und Aufmerksamkeit nicht hinreichend gut verarbeitet werden können.

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Mehr Information bedeutet nicht zugleich auch schon besseres Verstehen von Welt und Wirklichkeit. Die unterschiedslose Aneinanderreihung von Nachrichten und Themen aller Art führt in letzter Konsequenz zu einer fragmentierten Weltsicht, in der sich alle Unterschiede in den Wertigkeiten der Ereignisse nivellieren. Im ständig anschwellenden Informationsstrom scheint alles gleichermaßen wichtig wie unwichtig. Wenn aber der differente Sinn der Ereignisse und der sich auf sie beziehenden Informationen für immer mehr Menschen verlorengeht, dann sinkt die Bereitschaft zur aktiven Anteilnahme am Weltgeschehen, was am Ende in eine kollektive Haltung der Gleichgültigkeit mündet.

Diffuse Zukunftsängste

Das Syndrom der Informationsmüdigkeit, das für immer mehr Menschen mit diffusen Zukunftsängsten, Ohnmachtserfahrungen und dem Gefühl des Kontrollverlusts einhergeht, ist für die Demokratie brandgefährlich. Denn hier bricht etwas auf, was als Dialektik der Kommunikationsgesellschaft beschrieben werden kann: Je größer die bloß akkumulativ und nicht integrativ wachsende Informationsmenge, desto geringer die Chance ihrer sinnvollen Verarbeitung. Je geringer aber die Chance sinnvoller Informationsverarbeitung, desto geringer wiederum die Chance auf rationale Urteilsbildung als Basis für privates wie auch öffentliches Entscheidungshandeln. Je geringer die Fähigkeit und Bereitschaft zum rationalen Urteil, desto größer die Versuchung und Bereitschaft, irrationalen und antidemokratischen Deutungsmustern – Stichwort: Verschwörungstheorien – zu folgen.

Der kommunikationstechnologische Fortschritt mit all seinen Verheißungen eines demokratischeren und freieren Lebens konfrontiert uns plötzlich mit seinen ihm innewohnenden regressiven Momenten. Sie bewirken das Gegenteil dessen, was dieser Fortschritt eigentlich erreichen wollte. In nahezu allen westlichen Demokratien können wir beobachten, wie sich die politische Kultur rückwärtsentwickelt, sich autoritäre, antidemokratische und freiheitsbedrohende Strömungen oft gewaltsam Aufmerksamkeit verschaffen. Informationsmüdigkeit ist ein Alarmsignal für beginnende Demokratiemüdigkeit.

Medien und Journalismus stehen nicht abseits dieser Entwicklung, sondern haben aktiven Anteil an dieser Dialektik der modernen Kommunikationsgesellschaft. Ihre demokratiepolitische und professionelle Aufgabe besteht darin, diesen regressiven Entwicklungen der modernen Gesellschaft unablässig auf der Spur zu bleiben und dabei ständig den möglichen eigenen Anteil an diesen regressiven Entwicklungen kritisch zu hinterfragen. Mehr als je muss der Qualitätsjournalismus Antworten auf die wachsende Orientierungsnot der Menschen finden.

Kulturelle Leistung

Das unablässige Bemühen um Optimierung von Verstehensprozessen aufseiten der Rezipienten ist die einzige Chance gegen Informationsmüdigkeit, diffuse Zukunftsängste, Fake News und Verschwörungstheorien. Dies ist eine journalistische Sisyphusarbeit. Aber darin liegt die eigentliche professionelle und demokratiepolitische Herausforderung für Qualitätsmedien und auch ihre einzige Möglichkeit, im digitalen Zeitalter zu überleben.

Journalismus war immer und wird immer – hoffentlich zumindest – eine intellektuelle und kulturelle Leistung sein, die den Menschen dazu verhilft, sich in der Komplexität der Welt zurechtzufinden, sie verstehbar zu machen. Die Frage lautet daher nicht, was die Menschen alles wissen müssen, sondern: Was müssen die Menschen wissen, um möglichst viel verstehen zu können? Das macht einen erheblichen Unterschied. Unter diesem Gesichtspunkt der Verpflichtung von Journalistinnen und Journalisten, auch zum Verstehen beizutragen, reicht die bloße, dem Objektivitätspostulat folgende Vermittlung von Fakten nicht aus.

Journalismus hat nicht nur mit der Darstellung dessen zu tun, was der Fall ist, sondern auch mit dem, was sein könnte. Um Anleihe bei Robert Musil zu nehmen: Journalistinnen und Journalisten müssen nicht nur einen Wirklichkeitssinn, sondern auch einen Möglichkeitssinn haben. Denn der gesellschaftliche Diskurs wird nicht primär auf der Ebene des Faktischen ausgetragen, sondern auch auf der Ebene von Werten. Das Berufsbild des Qualitätsjournalismus wird in Zukunft weniger das eines neutralen Vermittlers noch das eines Kritikers und Kontrolleurs der Mächtigen noch das des ehrlichen Maklers zwischen Politik und Bürger sein. Vielmehr wird auf den qualitativen Journalismus von morgen das Bild des Navigators passen, der dafür sorgt, dass die Menschen in der Informationsflut nicht untergehen. (Maximilian Gottschlich, 18.1.2023)