Können Londoner und vor allem Londonerinnen ihrer Polizei noch über den Weg trauen? Als "zerstört" beschreibt sogar die konservative Regierung das Vertrauen in Scotland Yard, die wichtigste Polizeibehörde des Landes: Über fast zwei Jahrzehnte konnte der Angehörige einer bewaffneten Eliteeinheit ungestört Frauen nachstellen, sie demütigen und vergewaltigen – und alle Hinweise von Opfern verliefen im Sande. "Wir haben versagt", räumte der erst seit September amtierende Polizeipräsident Mark Rowley ein.

Ist Scotland Yard überhaupt noch reformierbar?
Foto: EPA / Andy Rain

Beim Schwurgerichtsprozess gegen David Carrick in London-Southwark sollte es von Montag an um sechs der schwerwiegendsten Vorwürfe gegen ihn gehen; insgesamt hatte die Staatsanwaltschaft 49 Anklagepunkte – darunter 24 Vergewaltigungen, Freiheitsberaubung, sexuelle Nötigung sowie Körperverletzung – aufgelistet. Bereits im Dezember hatte der 48-Jährige 43 Delikte eingeräumt. Weil er nun unter der Last der Beweise in sämtlichen Anklagepunkten auf schuldig plädierte, blieb wenigstens seinen Opfern die zusätzliche Belastung eines Kreuzverhörs vor Gericht erspart.

Am Dienstag wurde Carrick offiziell aus dem Polizeidienst entlassen. Dabei war der frühere Soldat bereits zu Beginn des Jahrhunderts wegen Straftaten gegen seine damalige Freundin auffällig geworden. Dennoch durfte der damals 26-Jährige 2001 die blaue Polizeiuniform anziehen, acht Jahre später wurde er Teil des bewaffneten Personenschutzes für Königsfamilie und Regierung. Immer wieder meldeten sich Frauen bei unterschiedlichen Polizeibehörden, wurde Carrick wegen auffälligen Verhaltens von Kollegen kontrolliert. Stets wurden die Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt.

Anmache mit Polizeimarke

So konnte der Polizist ungestört auf Internetplattformen wie Tinder Frauen kennenlernen. Bei ersten Treffen zeigte er häufig seine Polizeiplakette vor: Bei ihm könne sich das Gegenüber sicher fühlen. Stattdessen behandelte er seine Opfer wie Sklavinnen, schrieb ihnen Kleidung und Nahrung vor, sperrte sie in winzige Abstellkammern, hinderte sie am Kontakt mit anderen Männern, ja sogar mit den eigenen Kindern. "Er genoss es, seine Opfer zu demütigen", resümiert Kriminalrat Iain Moor, der die Ermittlungsgruppe bei der Polizei von Hertfordshire leitete.

Während die Metropolitan Police (MPS) nämlich alle Hinweise übersehen oder unterschlagen hatte, gab die Nachbarpolizei von Sussex den zuständigen Kollegen in Hertfordshire im Herbst 2021 einen Hinweis auf Carrick weiter, was schon drei Tage später zu dessen Festnahme und Dienstsuspendierung führte. Seine eigene Behörde habe "durch eine Kombination aus schwachen Entscheidungen und schwachen Abläufen" den Verbrecher in den eigenen Reihen geduldet, analysierte Präsident Rowley am Dienstag: "Das war ein spektakuläres Versagen."

Nicht das erste Versagen

Und keineswegs das erste. Rowleys Vorgängerin Cressida Dick musste vor nicht einmal einem Jahr zurücktreten, nachdem der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan ihr das Vertrauen entzogen hatte. Schon damals war mit Blick auf eine beschämende Serie von Skandalen von einer dringend nötigen Wiederherstellung des öffentlichen Vertrauens die Rede. Khan warf der Metropolitan Police "Rassismus, Sexismus, Homophobie, Mobbing, Diskriminierung und Frauenfeindlichkeit" vor.

Polizei- und Verwaltungsexperten stellen nun erneut die Frage, ob die 1829 gegründete Behörde mit 43.500 Mitarbeitern überhaupt reformierbar ist. Ausgliedern ließe sich beispielsweise die Terrorabwehr für ganz Großbritannien; dafür ist die MPS ebenso zuständig wie für die Sicherheit der multikulturellen 8,5-Millionen-Einwohner-Metropole, den Personenschutz für die Königsfamilie und die Regierung sowie die Bewachung des Parlamentsgebäudes an der Themse.

Der bewaffneten Eliteeinheit gehörte wie Carrick auch Wayne Couzens an. Dieser wurde 2021 für die Entführung, die Vergewaltigung und den Mord an der jungen Londonerin Sarah Everard verurteilt. Wie Carrick hatte auch Couzens seine dienstliche Funktion ins Spiel gebracht und das Vertrauen der 33-Jährigen missbraucht. Weil sich nach der schrecklichen Tat im März 2021 tausende Frauen im Südlondoner Park Clapham Common zu einer stillen Mahnwache versammelten, was nach dem Buchstaben des Gesetzes trotz Abstands und Gesichtsmasken illegal war, wurden die Demonstrantinnen ruppig auseinandergeprügelt.

Serientäter unbehelligt

Eine Reihe anderer Skandale bestätigt den Eindruck von Bürgermeister Khan. Im Osten der Stadt ging eine Mordkommission dem Tod eines jungen Mannes nicht auf den Grund, sodass der Serientäter weitere drei Londoner ermorden konnte. Grund für die tödliche Schlamperei war dem Untersuchungsrichter zufolge Homophobie – sämtliche Opfer waren schwul.

Nach dem Doppelmord an zwei Schwestern im Norden der Stadt kursierten in einer Whatsapp-Gruppe tagelang Fotos der beiden Leichen, die zwei zur Tatortsicherung abgestellte Beamte gemacht hatten. Erst viel später fasste sich ein Kollege ein Herz und meldete das ebenso illegale wie unmoralische Treiben. Beide Täter wurden zu Haftstrafen verurteilt.

Im innenstädtischen Polizeirevier Charing Cross hatten Beamte in einer Whatsapp-Gruppe Fantasien über häusliche Gewalt und die Tötung schwarzer Kinder ausgetauscht. Neun von 14 Polizisten blieben im Dienst, einer wurde sogar befördert, ehe eine Sonderkommission den Augiasstall ausfegte.

Auf Rowley warten vergleichbare Herausforderungen: Nach der neuerlichen Blamage werden jetzt 1.633 Vorwürfe sexueller und häuslicher Gewalt aus den vergangenen zehn Jahren gegen 1.071 MPS-Angehörige nochmals überprüft. (Sebastian Borger, 17.1.2023)