In einem Schulaufsatz beschreibt Holly (Flora Ofelia Hofmann Lindahl) ihre Gewalterfahrungen, sie und ihr jüngerer Bruder Theo (Noah Storm Otto) kommen daraufhin in eine Pflegefamilie.

Foto: Michella Bredahl

Mama Dea (Christine Albeck Børge) und Holly Stiefvater Simon (Peter Plaugborg) zweifeln daran, dass Holly die Wahrheit sagt.

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Mein Leben: noch ein Tag voller Angst, Zweifel und Hass. Hass auf ihn. Er saugt alles Leben aus uns heraus." Es sind beklemmende, traurige und berührende Worte, die die 14-jährige Holly (Flora Ofelia Hofmann Lindahl) in einem Schulaufsatz schreibt. In dieser Arbeit wirft sie ihrem Stiefvater Simon (Peter Plaugborg) häusliche Gewalt vor, schildert detailliert, wie er sie geschlagen, gegen den Boden gedrückt und gegen ein Regal gestoßen hat.

Es sind schwerwiegende Anschuldigungen, die Holly hier erhebt. Und die freilich das Patchworkfamiliengefüge erschüttern. Einen Hilfeschrei sieht darin ihr aufmerksamer Lehrer, der das Jugendamt einschaltet.

In "Cry Wolf" – die achtteilige dänische Serie ist ab Donnerstag auf Arte und schon jetzt in der Arte-Mediathek zu sehen – werden die Mechanismen ruhig, detailliert und authentisch verhandelt, die solche Vorwürfe auslösen. Bei den betroffenen Familien, beim Jugendamt, bei Polizei und Gerichten.

Geschrieben wurde das Drama von Maja Jul Larsen, die schon mit der Erfolgsserie "Borgen" bewiesen hat, wie gut sie darin ist, den Zuschauern und Zuschauerinnen verschiedenste Perspektiven näherzubringen.

Vorurteile hinterfragen

Und auch in "Cry Wolf" – Regisseurin Pernille Fischer Christinsen gibt damit ihr TV-Debüt – schafft sie es, ihre Figuren sehr präzise zu zeichnen, und sie zwingt uns, eigene Vorurteile zu hinterfragen, immer wieder zu revidieren oder auch später möglicherweise bestätigt zu sehen.

Sozialarbeiter Lars (Bjarne Henriksen), ein gemütlicher, freundlicher, einfühlsamer, aber auch hartnäckiger Kämpfer, nimmt sich Hollys an. Er glaubt ihr und ihren Darstellungen, zumal Simon bereits früher wegen Körperverletzung angeklagt war. Behutsam baut er ein Vertrauensverhältnis zu Holly auf, man merkt, er hat Erfahrung, er macht diesen schwierigen Job schon lange. In seiner Berufslaufbahn ist ihm schon viel untergekommen, und doch ist er nicht abgestumpft. Gemeinsam mit Hollys Bruder Theo – Simon ist dessen leiblicher Vater – wird Holly in einer Pflegefamilie untergebracht. Ohne Kontakt zur Mutter Dea und natürlich ohne Kontakt zu Simon.

Es ist vor allem Theo (Noah Storm Otto), der unter dieser Situation massiv leidet, nicht verstehen kann, warum er seine Mama und seinen Papa nicht mehr sehen darf. Dass sein Vater Simon gewalttätig geworden sein soll, bestreitet er. In der Schule gilt er als verhaltensauffällig, für das Jugendamt unter anderem ein Indiz dafür, dass zu Hause nicht alles reibungslos verläuft.

Widersprüche

Interessant ist vor allem die Rolle der Mutter. Dea (Christine Albeck Børge) glaubt ihrer Tochter nicht. Zumindest vorerst. Sie tut die Vorwürfe als Fantasie eines Mädchens im Teenageralter ab, das sich damit schwertue, dass ihr leiblicher Vater sich nicht um sie kümmert, und die die Aufmerksamkeit auf sich lenken wolle. "Du zerstörst unsere Familie", sagt Dea einmal zu ihrer Tochter, die man in den Arm nehmen und trösten will. Doch auch Holly ist voller Widersprüche, wie sich mehr und mehr herausstellt. Wer hier die Wahrheit sagt und wer lügt, bleibt lange im Verborgenen. Und die Serie spannend bis zum Schluss. (Astrid Ebenführer, 18.1.2023)