Auf beinahe allen Politikfeldern, allen voran bei der Frage eines weiteren Unabhängigkeitsreferendums, liegen sich die schottischen Nationalisten mit der konservativen Zentralregierung in London unter Premier Rishi Sunak in den Haaren. Ausgerechnet über die Rechte einer winzigen Minderheit kommt es jetzt zum konstitutionellen Showdown: Am Dienstag blockierte Schottland-Minister Alister Jack ein Transgender-Reformgesetz des Parlaments in Edinburgh mit der Begründung, es laufe gesamtbritischen Gleichheitsgesetzen zuwider. Die Edinburgher Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon von der Nationalpartei SNP nannte den beispiellosen Schritt einen "Angriff auf Schottlands Demokratie" und kündigte gerichtliche Schritte an.

Anders als seine Vorgänger Boris Johnson und Liz Truss, die sich gern herablassend über Sturgeon geäußert hatten, betont Premier Sunak stets den Wunsch nach guter Zusammenarbeit mit den Regierungen aller Regionen des Vereinigten Königreiches. Erst vergangene Woche war er ins schottische Inverness geflogen, um sich bei einem informellen Abendessen mit Sturgeon auszutauschen.

Kein zweites Referendum

Inhaltlich liegen die beiden Regierungschefs weit auseinander. Nicht zuletzt blockiert Sunak wie alle Vorgänger Sturgeons Vorhaben, die Schotten zum zweiten Mal seit 2014 über die Unabhängigkeit abstimmen zu lassen. Zur Begründung verweist die Nationalistin auf die veränderte Lage durch den Brexit; hingegen halten die Konservativen an der einst auch von der SNP vertretenen Meinung fest, die Abstimmung zugunsten der Union (55:45 Prozent) solle "für eine Generation gelten". Erst im November hatte der Londoner Supreme Court unter Vorsitz eines Schotten eine "konsultative" Volksabstimmung ohne Zustimmung durch die Zentralregierung für unrechtmäßig erklärt.

Nicola Sturgeon liefert sich wieder einmal eine politische Auseinandersetzung mit London.
Foto: AP Photo/Jacquelyn Martin

Das entsprechende Gesetz war damals noch nicht vom schottischen Parlament verabschiedet, anders als das Transsexuellen-Reformgesetz. Dieses erhielt im Dezember nach langer, kontroverser Debatte eine Zweidrittelmehrheit; dabei gab es in allen großen Parteien, auch in der straff geführten SNP, Abweichler von der Fraktionslinie.

Liberalere Gesetzeslage

Für den rechtlich gültigen Wechsel aus dem bisherigen Geschlecht müssen Transsexuelle nach gültiger britischer Gesetzeslage 18 Jahre alt sein, ein ärztliches Attest sowie eine Übergangszeit von zwei Jahren nachweisen können. Hingegen erlaubt das schottische Gesetz allen Menschen über 16 Jahren die Neueinstufung nach sechs Monaten und ohne ärztliche Beteiligung. Internationale Organisationen haben unterschiedliche Meinungen zum schottischen Vorhaben mitgeteilt. Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatovic, nannte das Gesetz "international vorbildlich" ("best practice"); hingegen warnte die UN-Menschenrechtskommission, die Selbsteinstufung sei "nicht notwendigerweise fairer oder effizienter".

Bei der jüngsten Volkszählung des Statistikamtes ONS identifizierten sich 262.000 Menschen über 16 Jahre in England und Wales als Transsexuelle, verneinten also die Frage, ob ihr Geschlecht mit der Angabe auf der Geburtsurkunde übereinstimme. Umgerechnet auf die Bevölkerung beträgt die Zahl der Betroffenen in Schottland demnach rund 24.000.

Berühmte Kritikerinnen und Kritiker

Minister Jack begründete seine rechtlich mögliche, aber seit der Neueinrichtung des Edinburgher Parlaments 1999 noch nie angewandte Blockade des schottischen Gesetzes mit der Ungleichheit, die dadurch in unterschiedlichen Teilen des Vereinigten Königreiches geschaffen werde. Zudem äußerte er Bedenken, was den Betrieb von Schulen, Clubs und Vereinen angeht, die nur einem Geschlecht zur Verfügung stehen. Andere britische Politiker wie Labour-Oppositionsführer Keir Starmer wenden sich vor allem gegen die Anwendung der neuen Regelung auf Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren.

Demonstrierende in London, die sich für die liberalere, schottische Gesetzgebung einsetzen.
Foto: REUTERS/Henry Nicholls

Ähnliche Argumente sind seit Jahren in der Transgender-Debatte zu hören, die auf der Insel wie anderswo mit erbitterter Härte ausgefochten wird. Zu den prominenten Skeptikern der Selbsteinstufung gehört ausgerechnet eine der prominentesten Schottinnen, die Schriftstellerin Joanne K. Rowling. Die Schöpferin und Chefin des Harry-Potter-Universums hat sich vor Jahren in einem langen Essay nicht nur als Opfer sexueller Gewalt in jungen Jahren geoutet; sondern sie sprach auch von jugendlichen Zweifeln an ihrem Geschlecht: "Ich glaube, man hätte mich dazu überreden können, mich zu dem Sohn zu machen, den mein Vater stets ganz offen als seine Präferenz bezeichnete." Seither gehört Rowling zu den Hassfiguren der Transgender-Community.

Sturgeon beschuldigt die Konservativen, sie würden die Rechte einer ohnehin marginalisierten Minderheit politisieren, ja einen "Kulturkampf" anstreben. Die Londoner Regierung vermied am Dienstag eine ähnlich schrille Rhetorik; hinter vorgehaltener Hand hieß es aber, der Vorwurf lasse sich ebenso gut umgekehrt machen. In jedem Fall wird der verfassungsrechtliche Konflikt früher oder später erneut vom Supreme Court entschieden werden müssen. (Sebastian Borger aus London, 17.1.2023)