Eine Diamantene Hochzeit ist zu begehen: Vor 60 Jahren, am 22. Jänner 1963, besiegelten Deutschland und Frankreich ihre Versöhnung nach drei schweren Kriegen. Charles de Gaulle sprach bei der Unterzeichnung mit "erfülltem Herzen" von der "immensen Bedeutung" des Anlasses für Europa und die Welt; ebenso bewegt sagte der deutsche Kanzler Konrad Adenauer: "Herr Präsident, Sie haben die Empfindungen und Gefühle (...) so treffend wiedergegeben, dass ich nichts hinzufügen brauche: Jedes Wort, das Sie gesagt haben, entspricht unserem Willen und unserer Auffassung."

Gemeinsame Sache, aber nicht unbedingt aus tiefstem Herzen: Olaf Scholz und Emmanuel Macron.
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Aus dem Geist der Versöhnung wuchs die europäische Idee – EWG, EG, heute EU. Seither geben deutsch-französische Paare den Ton an: Valéry Giscard d'Estaing und Helmut Schmidt, François Mitterrand und Helmut Kohl, Jacques Chirac und Gerhard Schröder sowie gleich mehrere Partner und Angela Merkel. Man stritt sich oft, einigte sich meist und zog mit einem gemeinsamen Projekt ins EU-Gipfeltreffen, wo sich das Powerduo Berlin/Paris dann problemlos durchsetzte.

Motor läuft nicht mehr rund

Jetzt sind Emmanuel Macron und Olaf Scholz an der Reihe, doch irgendwie läuft der Motor nicht mehr rund. Der spröde Hanseat und der flamboyante Nordfranzose finden nur mühsam zueinander. Dabei verfolgen sie im Ukraine-Krieg einen ähnlichen – ähnlich vorsichtigen – Kurs gegenüber Kiew. Dissonanzen gab es beim Thema Energiepreisdeckel oder der Atomkraft. Als Scholz seinen "Doppelwumms" lancierte, hätte man an der Pariser Seine gerne gewusst, was der deutsche Kanzler mit den 200 Milliarden Euro bezweckt, doch dieser hielt sich bedeckt.

An der Berliner Spree sorgte hingegen Macron für Unmut, als er die französischen Staatsschulden auf bis über 115 Prozent des Bruttoinlandprodukts ausufern ließ; und statt den Geldhahn zuzudrehen und die Inflation zu bekämpfen, will der spendable Élysée-Herrscher einfach die Defizit- und Schuldenregeln ändern.

Fehlende Koordination

Auch Macrons Lieferung leichter Schützenpanzer an die Ukraine war nicht mit Berlin abgesprochen. Sie erhöht den Druck auf Scholz nachzuziehen. Früher, noch zu Merkels Zeit, wäre es eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass man sich im Vorhinein abspricht. Auch eine "Zeitenwende" hätte das Merkel'sche Kanzleramt nicht ohne Rücksprache mit Paris lanciert.

Die Herzlichkeit von 1963 hat gelitten, Misstöne und Missverständnisse mehren sich. Im vergangenen Oktober platzte Macron der Kragen, als Scholz ohne die übliche Absprache mit Paris seine European Sky Shield Initiative (ESSI) startete. Paris wurde bei dem Luftabwehrschirm gegen russische Raketen nicht berücksichtigt – undenkbar für Frankreich, den EU-Pionier, der stolz auf die größte Armee der Union ist. Macron reagierte empfindlich, ließ eine langgeplante deutsch-französische Regierungssitzung in Fontainebleau kurzerhand platzen.

Der Eklat wirkte. Macron legte noch einen drauf: Er ließ Scholz wissen, Deutschland habe sich in der Energiepreisfrage "isoliert". Wie üblich bemühten sich Berlin und Paris bald wieder, die Fugen zu kitten. Die gemeinsame Regierungssitzung kam wieder ins Programm. So treffen sich die deutsche und die französische Regierung nun am kommenden Sonntag an der Pariser Sorbonne-Universität, um den 60. Jahrestag des Élysée-Vertrags zu feiern.

Geht Macron fremd?

Allein: Die früher lyrischen Töne dürften nüchterner ausfallen. Man hat gemerkt und wird es auch zelebrieren: Die deutsch-französische Beziehung ist alternativlos. Doch die Solotouren der letzten Monate haben Spuren hinterlassen. Macron schaut Richtung Süden, wo er Gleichgesinnte weiß. Schon Ende 2021 hat er einen Freundschaftsvertrag mit Italien – damals noch unter Ministerpräsident Mario Draghi – geschlossen. Der Élysée-Vertrag stand Pate. An diesem Donnerstag hat Macron in Barcelona ein ähnliches Abkommen mit Spanien geschlossen. Ist die deutsch-französische Freundschaft nicht mehr die einzige, die exklusive? Oder, noch einfacher gefragt: Geht Macron fremd?

So einfach ist es nicht. In Paris glaubt man im Gegenteil, es sei Deutschland, das immer mehr nach Osten blicke und Frankreich den Rücken zukehre. Der französische Historiker und Germanist Jacques-Pierre Gougeon zitiert Wolfgang Schäuble, laut dem die Zukunft der EU in Osteuropa liegt – und Polen mittlerweile so wichtig ist wie Frankreich. Solche Sichtweisen schmerzen in Frankreich, wo man sich im Gegenzug nicht einfach nach Westen wenden kann – da ist nur noch der Atlantik. Das EU-Kernland Frankreich fühlt sich an den Rand einer immer größeren EU gedrängt. Und Südeuropa ist halt auch kein richtiger Ersatz.

Zusammenhalt aus Angst voreinander

Letztlich war es wohl das diffuse Gefühl, dass sich "les amis allemands", die deutschen Freunde, von Frankreich abwenden, das Macrons Eklat auslöste. Wie sehr das schmerzt, offenbarte der frühere Mitterrand-Berater Jacques Attali, als er sich zur provokanten Feststellung hinreißen ließ: "Der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland wird wieder möglich." Die beiden Länder hätten schon immer strategisch divergierende Interessen gehabt, meinte Attali; nur die Angst vor einem neuen Konflikt wie in den Weltkriegen halte sie zusammen.

In Paris wurde Attali gescholten: Er habe sich wieder einmal in der Wortwahl vergriffen. Im Quai d'Orsay, dem französischen Außenministerium, zeigen die Diplomaten eher Verständnis für die schwierige Lage Deutschlands, dessen gesamte Ostpolitik – ökonomisch wie sicherheitspolitisch – in Scherben liegt. Nirgends hört man in Paris Kommentare, man habe die deutschen Freunde ja gewarnt, dass Nord Stream 2 Deutschlands Abhängigkeit vom Kreml noch verstärke.

Vor 60 Jahren besiegelten Konrad Adenauer und Charles de Gaulle per Vertrag die Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich.
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Mit der Sprengung der Gaspipeline hat sich der deutsch-französische Pipelinestreit von selbst erledigt. Was bleibt, ist eine grundlegend unterschiedliche Vision der Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Frankreich propagiert die "strategische Autonomie" Europas ohne den Schutzschirm der USA; Deutschland will sich dagegen nicht auf eine europäische Armee verlassen, solange diese Wunschdenken bleibt. Deshalb hat man in Berlin Macrons Sager über die "hirntote" Nato 2019 sehr schlecht aufgenommen.

Neue, alte Divergenzen

Aber auch Paris bleibt frustriert über den Fortbestand dieser strategischen Divergenz. Der konservative Abgeordnete Jean-Louis Thériot, Vizepräsident der Verteidigungskommission der französischen Nationalversammlung, befand kürzlich von neuem, Deutschland strebe "nicht wirklich eine europäische Verteidigung" an, sondern versuche sich lieber unter den "amerikanischen Schutzschirm" zu begeben.

Neu sind diese Differenzen allerdings mitnichten. Schon im Élysée-Vertrag hatte de Gaulle bewirkt, dass die USA, Großbritannien und die Nato als Alliierte nicht einmal erwähnt werden – als gäbe es kein westliches Verteidigungsbündnis. Der Bundestag in Bonn korrigierte diese Sicht unilateral: Er ratifizierte das deutsch-französische Abkommen, indem er für die deutsche Seite eine Präambel anfügte, in der sich die Bundesrepublik zum Atlantikpakt mit den USA und der Nato bekennt.

De Gaulle war bereits wieder eingeschnappt. Der Freundschaftsvertrag hielt dennoch. Für die Deutschen wie die Franzosen überwogen die Vorteile, nämlich die Bildung einer Kernbeziehung im Herzen Europas, an der niemand vorbeikommen sollte.

Trotz allem ein Vorteil für alle

Eine Win-win-Situation, wie man heute sagen würde: Die BRD kehrte dank Frankreich ins Konzert der europäischen Nationen zurück, und Frankreich konnte seine Grandeur über seine Landesgrenzen hinaus auf das Europaprojekt übertragen. Berlin und Paris bleiben bis heute aufeinander angewiesen, wenn sie in einem veränderten Umfeld in und außerhalb der EU bestehen wollen. Ihr 60-jähriger Diamant hat zwar ein paar Kratzer abgekriegt, er zeigt gar Risse, die auf eine gewisse Entfremdung in den letzten Jahren zurückzuführen sind.

Aber er bleibt solider, als man angesichts der zahlreichen wirtschafts- und verteidigungspolitischen Differenzen meinen würde. Oft braucht es gewaltige Anstrengungen, um bilateral zusammenzufinden: Die gemeinsamen Rüstungsprojekte – wie etwa das Kampfjetsystem FCAS – wurden nur durch ein Machtwort aus dem Élysée und dem Kanzleramt gerettet, und auch so sind sie noch nicht über den Berg. Aber das Beispiel FCAS zeigt: Berlin und Paris haben gar keine andere Wahl, als gemeinsame Sache zu machen. Gerade in Krisen- und Kriegszeiten wie diesen. (Stefan Brändle, 22.1.2023)