Letales Medikament: Schwerkranke Sterbewillige können Pentobarbital-Natrium aus der Apotheke beziehen.

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Der Staat will es nicht allzu genau wissen. Seit einem Jahr ist in Österreich der assistierte Suizid für schwerkranke Menschen legal: Wer ein festgelegtes Prozedere durchläuft, kann via Sterbeverfügung ein todbringendes Medikament aus der Apotheke beziehen. Doch eine wissenschaftliche Begleitung, um etwa die Motive der Sterbewilligen zu ergründen, läuft laut Auskunft des zuständigen Gesundheitsministeriums nicht.

Die Österreichische Palliativgesellschaft (OPG) hält das für ein Versäumnis. In Eigenregie hat die Vereinigung jener Berufsgruppen, die Menschen mit schweren, unheilbaren Erkrankungen betreuen, deshalb eine Meldeplattform eingerichtet. Ob Angehörige, Pfleger oder Psychologen: Wer einen assistierten Suizid oder auch nur dessen Anbahnung miterlebt hat, kann auf ascirs.at einen anonymen Bericht deponieren. Einen repräsentativen vollständigen Überblick biete die Sammlung zwar nicht, betont die OPG – aber allemal wichtige Informationen, um aus Erfahrungen zu lernen. Die Auswertung des ersten Jahres liegt dem STANDARD vor.

Mehr Todesfälle als offiziell bekannt

Anzumerken ist: Die OPG tritt nicht bloß als neutrale Beobachterin auf. Aus dem eigenen Selbstverständnis heraus – den Tod weder verfrüht herbeiführen noch hinauszögern – haben sich die Palliativmediziner von Anfang an gegen die Liberalisierung der Sterbehilfe gewandt. Dies gilt es umso mehr im Hinterkopf zu behalten, als nicht nur die Berichte selbst naturgemäß vom Eindruck der jeweiligen Beobachter abhängen, sondern auch die Form der Veröffentlichung Interpretationsspielraum offenlässt. Einsicht in die einzelnen Meldungen gewährte die OPG nicht, sie hat lediglich eine eigene Analyse präsentiert.

Was als Erstes ins Auge sticht: Mit 21 vollzogenen assistierten Suiziden – weitere zwei wurden als Doppelmeldungen identifiziert – kommt die Plattform auf weit mehr Fälle als das offizielle Sterbeverfügungsregister, das für das Vorjahr laut der etwas vagen Auskunft des Gesundheitsressorts lediglich eine "einstellige" Zahl verbucht. Eine Erklärung für die Diskrepanz bietet das Ministerium nicht an, OPG-Präsident Dieter Weixler vermutet den Grund in der seiner Erfahrung nach hierzulande notorisch schlampigen Totenbeschau.

Zu zwei Dritteln sind es Frauen

Mehr Menschen haben es sich aber anders überlegt: 59 Berichte handeln von Anfragen um Sterbeverfügungen, die nicht im finalen Akt mündeten, ein Suizidversuch wurde abgebrochen. Die Betroffenen sind zwischen 43 und 97 Jahren alt, leiden meist unter Tumoren oder Erkrankungen des Nervensystems, zu zwei Dritteln handelt es sich um Frauen. Erklärungen aus OPG-Sicht: Angesichts einer höheren Lebenserwartung seien Frauen häufiger einsam, weil verwitwet. Sie erhielten weniger soziale Unterstützung und nähmen sich öfter als Last für andere wahr.

Für besonders aufschlussreich halten die Plattformbetreiber die genannten Motive. So sei es nur in Einzelfällen der in der politischen Debatte oft genannte Autonomie- und Kontrollverlust, der Schwerkranke den Weg in den freiwilligen Tod beschreiten lasse. Stattdessen gäben in den allermeisten Fällen körperliche Symptome und – mit den häufigsten Nennungen – "Leiderleben" den Ausschlag. Unter diesem Begriff sei vielfältiges "psychoexistenzielles" Leid zusammengefasst, erläutert Weixler: von der Einsamkeit über die Hoffnungslosigkeit bis zur Angst vor dem Ausgeliefertsein.

"Erschreckende" Ergebnisse

Die OPG fühlt sich von diesem Ergebnis in ihrer Ansicht bestärkt, dass die Möglichkeit des assistierten Suizids überflüssig sei. Denn moderne Palliativmedizin habe die Mittel, die als Motiv genannten Leiden deutlich zu lindern. "Erschreckend" findet der Arzt Weixler, dass körperliche Beschwerden eine derart große Rolle spielten: "Es lässt sich heutzutage beinahe garantieren, einen körperlichen Schmerz zu kontrollieren."

Die (unrealistische) Forderung, das Rad zurückzudrehen, erhebt die OPG dennoch nicht. Sehr wohl mahnen die Aktivisten aber den von der Regierung versprochenen Ausbau des palliativen Angebots ein – schließlich habe sich der bei 50 Prozent stehende Versorgungsgrad im abgelaufenen Jahr kein bisschen verbessert. Das Gesundheitsministerium hält entgegen: Die für 2022 in einem ersten Schritt eingeplanten 63 Millionen seien allesamt geflossen. Für die nächsten beiden Jahren sind weitere Investitionen in steigendem Ausmaß vorgesehen.

Überdies wollen die Zunftvertreter aus jener Pflicht entlassen werden, die ihnen das Gesetz aufbürdet: Demnach hat sich jeder Sterbewillige von zwei Ärzten begutachten zu lassen, von denen einer eine Palliativausbildung haben muss. Abgesehen davon, dass dieser Aufwand das vorhandene Fachpersonal überlaste, sehen sich Weixler und Co zur Beteiligung an einem Projekt genötigt, das ihnen schlicht gegen den Strich geht: "Da wurde der Bock zum Gärtner gemacht." (Gerald John, 25.1.2023)