Der Anteil von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf liegt Schätzungen zufolge zwischen fünf und sechs Prozent. Momentan ist er bei 2,7 Prozent gedeckelt.

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Ob Kinder mit Behinderung nach der zehnten Schulstufe weiterlernen, sich weiterbilden und etwa auf einen Beruf vorbereiten können, darüber entscheiden in Österreich nicht die Jugendlichen selbst – sondern (noch) die Bildungsdirektionen. Deren Entscheidung fällt aber oft gegen ein elftes und zwölftes Schuljahr für ebendiese aus. Diese bildungspolitische Schieflage hatte eine Elterninitiative Ende November 2022 sichtbar gemacht, die in einer Petition den Rechtsanspruch für zwei weitere Schuljahre einforderte – wie bei anderen Jugendlichen auch.

VIDEO: Förderbedarf, aber kein Schulplatz. DER STANDARD hat im November 2022 den 16-jährigen Samuel getroffen.
DER STANDARD

Nicht nur erhielt die Petition 40.000 Unterschriften und führte zu einem großen vorweihnachtlichen Lichtermeer in Wien. Sie brachte das Thema auch aufs politische Tapet: SPÖ, FPÖ und Neos schlossen sich der Forderung nach einem Rechtsanspruch für Kinder mit Behinderung an. Auch die Grünen unterstützen die Forderung und kritisieren zudem, dass gerade die Bildungsdirektion Wien österreichweit die meisten Ansuchen für ein 11. und 12. Schuljahr ablehnt, wie Bildungssprecherin Sibylle Hamann festhält. Die ÖVP will hingegen zunächst den sonderpädagogischen Förderbedarf (SPF) im Rahmen einer Studie evaluieren.

Neos als Fürsprecher ...

Die wohl präsentesten Fürsprecher auf politischer Ebene sind aktuell die Neos. Am Mittwoch signalisierte Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger gemeinsam mit Wiens Vizebürgermeister und Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr nach ihrer Parteiklausur, sich 2023 verstärkt ihrem Kernthema Bildung zuwenden zu wollen: Der Anspruch auf bundesweite und kostenlose ganztägige Kinderbetreuung für Kinder ab dem ersten Geburtstag und auf das elfte und zwölfte Schuljahr für Kinder mit Behinderung stehe ganz oben auf ihrer Agenda.

Letzteres geht auf das Schulpflichtgesetz zurück: Denn Schulkinder, denen aufgrund einer psychischen und körperlichen Beeinträchtigung ein sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wurde, müssen in Österreich nur neun Jahre unterrichtet werden. Diese Länge sieht der Lehrplan für Sonderschulen vor. Ob sie auch noch mit 16 oder 17 Jahren weiter in die Schule gehen können, hängt von den jeweiligen Bildungsdirektionen der Länder ab, die den Kindern ein elftes und zwölftes Schuljahr zugestehen können – oder eben nicht.

... aber mit den meisten Ablehnungen

Nicht die Neos-Forderung an sich, sondern die mangelnde Umsetzung im eigenen Wirkungsbereich stößt daher den Wiener Grünen auf: Denn die Bundeshauptstadt sei beim Thema Inklusion österreichweit "leider absolutes Schlusslicht", sagen die Bildungssprecher Julia Malle und Felix Stadler dem STANDARD. Tatsächlich verzeichnet Wien auch in Relation zur Bevölkerung die meisten Ablehnungen von Anträgen auf ein elftes und zwölftes Schuljahr. Laut Zahlen des Bildungsministeriums wurden in Wien im vergangenen Jahr von 312 Ansuchen 118 abgelehnt. "Es ist zynisch, auf Bundesebene Dinge zu fordern, die man in Wien selbst nicht auf den Boden bringt", kritisieren Malle und Stadler.

Warum ist das so? Aus dem Büro von Wiederkehr wird auf Nachfrage der jetzigen "halbgaren" Lösung die Schuld gegeben. Die Möglichkeit auf ein elftes und zwölftes Schuljahr sei damals eingeführt worden, ohne erforderliche Maßnahmen und Ressourcen bereitzustellen. Diese würden in Wien jedenfalls fehlen. "Das Problem ist, dass es weder einen Lehrplan für den verlängerten Besuch gibt noch der Bund personelle Ressourcen dafür zur Verfügung stellt", heißt es dem STANDARD gegenüber.

Deckelung als Finanzierungsfalle

Tatsächlich sind die Lehrerdienstposten für Schüler mit SPF bei 2,7 Prozent in den Landesschulen, zu denen auch die Sonderschulen gehören, gedeckelt. "Damit werden in Wien nicht mal die schulpflichtigen Kinder ausreichend abgedeckt", so der Sprecher. Alles, was darüber hinausgeht, muss das Bundesland finanziell selbst stemmen, was Wien der Argumentation von Wiederkehr folgend nicht kann. Jedenfalls dürfte der Anteil an Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf laut Expertinnen in Wirklichkeit zwischen fünf und sechs Prozent liegen.

Im Zuge der Evaluierung will sich das Bildungsministerium nun ein genaueres Bild machen. Für die letzten Schuljahren seien "ausreichend Ressourcen von Bundesseite" zur Verfügung gestellt worden, wird auf STANDARD-Nachfrage betont. Allerdings seien die Förderkontingente des Bundes in keinem Bundesland voll ausgeschöpft worden. Die Ergebnisse der Evaluierung sollen jedenfalls noch vor dem Sommer vorliegen – und mit ihr die Entscheidung, ob die Gleichstellung von Kindern mit Behinderung in Gesetz gegossen wird. (etom, 20.1.2023)