Vo Thi Anh Xuan agiert interimistisch als Vietnams Präsidentin.

Foto: Nhac NGUYEN / AFP)

In Vietnams Nationalversammlung ist der Versuch gescheitert, einen neuen Staatspräsidenten zu wählen. Die Abgeordneten konnten sich am Mittwoch nicht auf einen Kandidaten einigen, also führt Vizepräsidentin Vo Thi Anh Xuan (52) interimistisch die Amtsgeschäfte.

Die Wahl war notwendig geworden, weil Präsident Nguyen Xuan Phuc (68) tags zuvor seinen Rücktritt erklärt hatte und die politische Verantwortung für Korruptionshandlungen seiner Mitarbeiter übernahm. Es geht um den international nicht anerkannten überteuerten Corona-Test Viet A, den eine vietnamesische Kleinfirma mit erheblicher staatlicher Unterstützung 2020 entwickelte und im großen Stil vertrieb, wobei reichlich Bestechungsgelder flossen. Mehrere Politiker wurden in diesem Zusammenhang festgenommen. Der spätere, nun zurückgetretene Präsident war damals Regierungschef. Auch gegen Phucs Frau und mehrere ihrer Verwandten wird ermittelt, es gab auch Festnahmen.

Dass die Wahl einer Nachfolge nicht zustande kam, ist umso bemerkenswerter, weil nur einen Tag zuvor eigens eine Sondersitzung des Parlaments einberufen worden war – trotz der Feiern zum vietnamesischen Neujahrsfest. Am Dienstag war durchgesickert, dass die Parteispitze der allein regierenden Kommunistischen Partei sich intern auf Innenminister To Lam, einen Hardliner mit erheblicher krimineller Energie, geeinigt hatte. Wie der STANDARD aus gut unterrichteten Kreisen in Hanoi erfuhr, fand er nach einer ungewöhnlich langen und heftigen Debatte überraschend dann doch keine Mehrheit.

Das goldene Steak

To Lam ist ein Strippenzieher mit vielen Feinden. 2021 hatte er sich in London dabei filmen lassen, wie er sich in einem sündhaft teuren Restaurant mit einem vergoldeten Steak geradezu füttern ließ. Der Preis für das Steak soll das Monatseinkommen eines vietnamesischen Ministers überschritten haben. Die BBC stellte das Video online, es ging in Vietnam viral. Da viele Vietnamesen unter den Folgen der Pandemie litten, während der Innenminister prasste, stand dieser sogar zeitweise auf der Abschussliste.

Laut einem Urteil des Berliner Kammergerichts gab To Lam 2017 die Entführung eines abtrünnigen Parteifunktionärs von Berlin nach Hanoi in Auftrag. In Bratislava nahm er Trinh Xuan Thanh persönlich in Empfang. Das Entführungsopfer sitzt in Vietnam noch immer in Haft.

Bei der Wahl eines neuen Präsidenten wird es um die Frage gehen: Soll der Trend fortgesetzt werden, dass immer mehr Männer aus dem Sicherheitsapparat in die Führungsriege drängen und dort Wirtschaftskompetenz und liberale Töne verdrängen – oder wird der Hebel wieder einmal umgelegt? (Marina Mai, 18.1.2023)