Dumpstern ist strafbar: Es kann im schlimmsten Fall als Diebstahl oder sogar als Einbruchsdiebstahl gewertet werden.

Foto: imago stock&people

Es ist 22.42 Uhr, als Aron über ein niedriges Gitter in einem inneren Wiener Gemeindebezirk klettert. Es ist kalt, erste Regentropfen künden sich schon an, und die Straßen leeren sich. Ideale Umstände für ihn, Lara und Alex – sie alle möchten ihre echten Namen nicht im STANDARD lesen. Kaum in dem Hof gelandet, huscht der junge Student über den Gehweg.

Er späht in alle Richtungen, sieht aufgrund der Finsternis aber wohl nicht viel. Andererseits sieht ihn aber auch niemand. Für das, was er heute vorhat, ist das vorteilhaft. Beim Eingangstor angelangt, öffnet er das Schloss für seine beiden Freunde, die noch außerhalb der Wohnsiedlung stehen.

Die Gruppe verstummt, denn nun ist Achtsamkeit angesagt. "Man möchte nicht gesehen oder gehört werden", sagt Aron. "Nicht von Anrainern, nicht von Mitarbeitern. Sonst fällt der Standort weg." Nur wenige Schritte in die Wohnsiedlung hineinmarschiert, steht die Gruppe vor einer Tür mit eindeutiger Beschriftung. Hier ist der Müllraum für den Supermarkt.

Tonnen durchsuchen

Aron und seine Freunde sind gekommen, um die Tonnen nach Lebensmitteln zu durchsuchen. Das Phänomen ist nicht neu, allerdings ist es dieser Tage wieder im Gespräch, seitdem in Deutschland eine Debatte um die Legalisierung ausgebrochen ist.

So leicht ist es nicht immer, den richtigen Ort zu finden, erzählt Lara, oft seien gewerbliche Müllräume gut versteckt. Aron kramt einen Schlüssel aus seiner Tasche. Es ist der gleiche, den etwa auch die Müllabfuhr nutzt. Und er ist der Angelpunkt für Mülltaucher. Denn mit nur so einem Schlüssel ist es möglich, diesen Müllraum – und viele andere in Wien – zu betreten.

Müllsackerln öffnen

Wie er selbst an ihn gelangt ist, will Aron nicht erzählen. Grundsätzlich ist das Werkzeug aber mit den richtigen Kontakten nicht schwierig zu beschaffen. Allerdings dürfte der Student ihn eigentlich nicht besitzen (siehe Wissen).

Tür auf, alle rein, Tür zu. Kaum haben die Studenten den Raum betreten, erhellt das automatisierte Licht den Raum – und parallel dazu die Stimmung. Ein leicht abgestandener Geruch dringt in die Nase.

"Hast du auch einen für mich?", fragt Lara, schon deutlich lauter als zuvor, ihren Freund Alex, der sich einen Gummihandschuh über die Hand stülpt. Er nickt und zieht einen Einweghandschuh aus der Jackentasche.

Foto: privat

Die Gruppe reißt die schwarzen Müllsäcke in den Restmülltonnen auf, die eine Vielzahl an Schätzen offenbaren: Wurstsemmerln, Bowls, Kuchen und Salate etwa.

Aron und seine Freunde sind nicht arm. Wenn sie wollten, könnten sie sich ihr Essen einfach kaufen. Dass sie hier sind, habe eher mit Moral zu tun. Schließlich werden Lebensmittel, die noch komplett genießbar sind, verschwendet. Das könne man verhindern.

Gleichzeitig spare er sich viel Geld, sagt Aron. Ein Doppelsieg also, findet er. Vor allem im Winter beschafft er sich so einen großen Teil seiner Nahrung. Auch wenn er sich damit möglicherweise strafbar macht. Im Sommer würden die Lebensmittel in den heißen Tonnen hingegen rasch schlecht werden.

Keine schimmligen Himbeeren

Der junge Student ist überhaupt von Kopf bis Fuß mit einem eigenen Outfit zum Dumpstern ausgerüstet. Er trägt eine dunkle Jacke, Hose und alte, abgewetzte Schuhe. Seit Jahren taucht er regelmäßig im Müll.

Aron, Lara und Alex prüfen die Lebensmittel nach eindeutigen Merkmalen, die suggerieren würden, dass sie verdorben sind. Schimmlige Himbeeren will die Gruppe etwa lieber nicht aussortieren, auch bei einer zerdepschten Erdbeere entscheiden die drei sich nach einem kurzen Austausch dagegen, sie mitzunehmen. Das meiste können sie aber in die mitgebrachten Sackerln packen – und später in den Rucksack. Ob die Beute tatsächlich genießbar ist, verraten später die eigenen Sinne: Vor dem Essen sollte man sie genauer ansehen, riechen und eventuell ein kleines Stück probieren.

Als in den obersten Sackerln nichts mehr zu finden ist, muss Lara näher ran. Also klettert sie kurzerhand in die rund zwei Meter breite Tonne. "Berühr am besten nicht die Ränder", sagt Aron zu ihr. "Die sind meistens am dreckigsten." Eher mache es Sinn, auf den Hebellaschen der Tonne zu stehen oder sich mitten in die Tonne zu stellen. Lara entscheidet sich für Letzteres.

Convenience-Abteilung

Auch die Sackerln, in denen Lara am Boden der Tonne wühlt, erinnern immer wieder an die Convenience-Abteilung des Supermarktes. Einige Salate verderben bereits in ihrer Plastikverpackung. "Aufgeschnittene Ware wird am schnellsten schlecht", sagt Aron. Deswegen finde man sie täglich im Müll.

"Oh geil! Glücksschweinchen!", ruft Alex auf, der in der Zwischenzeit in der anderen Tonne gräbt. Schokolade gibt es selten zu retten. Genauso wie andere Süßigkeiten, rohes Fleisch, Bier und überhaupt abgepackte, trockene Ware. "Das nehmen wohl die Mitarbeiter mit", vermutet Aron. Oder es wird gespendet. Dafür entdeckt die Truppe umso mehr süße Mehlspeisen.

Reiche Beute

Als die Gruppe auch das letzte Sackerl durchsucht hat, präsentiert sie ihre Ausbeute: mehrere gefüllte Weckerln, packungsweise Krapfen, Salate, einen Eiaufstrich und Schwedenbomben. Lara freut sich zudem über einen Stahlschwamm – und ein Käsemesser. Alles werden sie nicht rechtzeitig aufessen können, dafür ist es zu viel. Daher wollen sie die Nahrung mit Freunden und Bekannten teilen.

Foto: privat

Bevor die Truppe wieder abrauscht, bleibt ein wichtiger Schritt: Der Müllraum soll so aussehen wie zuvor. Nichts soll lose herumliegen. Einerseits, um der Belegschaft des Supermarktes keine Umstände zu machen. Andererseits auch, um unauffällig zu bleiben.

Warum all die Geheimniskrämerei? Aus rechtlicher Perspektive könnte man argumentieren, dass der Student und seine Freunde und Freundinnen Diebe sind. Nur dass ihr Diebesgut etwas ist, das die ursprünglichen Besitzer gar nicht mehr haben wollten. Hinzu kommt, dass sich Müllräume oft auf privaten Grundstücken befinden. Und dann wäre da noch diese Sache mit dem Schlüssel.

Schlösser ausgetauscht

Abgesehen von rechtlichen Aspekten sei es sinnvoll, nicht aufzufallen, weil Supermärkte teils empfindlich reagieren würden, erzählt Aron. Im schlimmsten Fall kann es passieren, dass die Schlösser ausgetauscht werden – oder dass Wachpersonal engagiert wird. "Das ist einer der pervertiertesten Auswüchse des Kapitalismus", sagt Aron.

Doch das sind Gefahren, um die sich die Truppe zumindest diesmal keine Sorgen machen muss. Weitaus entspannter als zuvor spazieren sie hinaus, ihre Rucksäcke voller Lebensmittel. Die nächsten Tage werden sie vermeintlichen Müll schlemmen. (Muzayen Al-Youssef, 19.1.2023)