Seit Wochen gehen militärische Experten und Expertinnen im Westen davon aus, dass Kreml-Chef Wladimir Putin Mitte des Monats eine zweite Mobilisierungswelle für den Krieg gegen die Ukraine ankündigen könnte. Auch ukrainische und westliche Geheimdienste warnten wiederholt vor Putins Mobilisierungsvorbereitungen, brachten gar eine offizielle "Kriegserklärung" ins Gespräch. Mit Spannung wurde deshalb am Mittwoch die angekündigte Rede Putins erwartet. Was er dann, vor Arbeitern bei einem Besuch in einer Waffenfabrik in Sankt Petersburg, von sich gab, war zwar kein Einblick in seine Pläne, kann aber zumindest als kryptische Andeutung verstanden werden. Ein russischer Sieg in der Ukraine sei "sicher", so Putin.

Dass der Krieg in der Ukraine leider kein baldiges Ende findet, davon gehen alle Beteiligten aus.
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Was der russische Autokrat genau damit meint, blieb am Mittwoch unkommentiert. Dass der Krieg leider kein baldiges Ende findet, davon gehen aber alle Beteiligten aus. Der Kreml hat in letzter Zeit bereits mehr als 300.000 zusätzliche Soldaten mobilisiert, steigert die Rüstungsproduktion, baut die Armee um und besorgt sich laufend zusätzliche Waffen von autoritären Regimen wie dem im Iran. Er werde "die Bedingungen für einen langwierigen Krieg in der Ukraine schaffen", sagte Putin schon vor einem Monat.

Wie die Nato, Europa und die USA darauf reagieren müssen, liegt auf der Hand. Einerseits muss die Ukraine natürlich weiterhin mit Waffen und Know-how versorgt werden, der Krieg muss so bald wie möglich beendet werden. Beim aktuell stattfindenden Weltwirtschaftsforum im schweizerischen Davos geht es vor allem darum.

Strategische Ziele

Dabei wird allerdings einmal mehr ersichtlich, dass die vielbeschworene westliche Einheit so geschlossen nicht ist. Fast ein Jahr nach Beginn des Krieges ist nach wie vor offen, wie viele europäische Länder dazu bereit sind, mit der Lieferung von modernen Kampfpanzern einen weiteren Schritt zu gehen. Die Meinungen schwanken zwischen moderater und maximaler Unterstützung. Das Ergebnis ist ein Stellungskrieg in der Ukraine, in dem keine Seite vorwärtskommt.

Einmal mehr wird schmerzlich klar, wie sehr auch die zögerliche Haltung Deutschlands und das Fehlen einer Führungsachse nach dem Ausfall des deutsch-französischen Duos eine gemeinsame europäische Vorgehensweise behindern. Auch die Querschläge Ungarns und die schwelenden Konflikte zwischen Ost- und Westeuropäern belasten die Gemeinschaft. Das Resultat ist die Verkürzung der Diskussionen auf militärische Logik.

Es gibt offenbar keine konkreten gemeinsamen Vorstellungen in Europa dazu, welche strategischen Ziele man mit der – indirekten – Involvierung in den Krieg verfolgt. Welche roten Linien zieht man? Auf Basis welcher Grundsätze – etwa ähnlich der gemeinsamen Erklärung von Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt vor der Involvierung im Zweiten Weltkrieg – unterstützt man die Ukraine? Wie kann eine Friedensordnung nach dem Krieg aussehen? Wie könnte man solche brutalen Angriffskriege in Zukunft vermeiden?

Komplexe Fragen, für die es Visionäre braucht. Sich auf perspektivische Leitlinien für die Zeit nach dem Krieg zu einigen könnte aktuell Entscheidungen beschleunigen und der Ukraine leidvolle Monate, vielleicht sogar Jahre ersparen. (Manuela Honsig-Erlenburg, 18.1.2023)