Jacinda Ardern standen die Tränen in den Augen, als sie am Donnerstag eine der wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens bekanntgab. Nach fünfeinhalb von Krisen und Katastrophen geprägten Jahren hat sie genug. "Ich weiß, was man für diesen Job braucht, und ich weiß, dass ich nicht mehr genug im Tank habe", erklärte Ardern während einer Pressekonferenz. Auch Politikerinnen seien nur Menschen.

Die meisten Beobachter und viele ihrer Kollegen und Kolleginnen hatten keine Ahnung von ihrer bevorstehenden Entscheidung. Auch ihrer vierjährigen Tochter Neve habe sie nichts gesagt, so Ardern. Denn kleine Kinder seien dafür bekannt, "dass sie gerne plaudern".

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DER STANDARD

Es ist kein Zufall, dass die Regierungschefin ihre Tochter erwähnte. Neve war ein wesentlicher Grund für Ardern, den Schritt aus dem höchsten politischen Amt zu wagen. Sie wolle dabei sein, wenn das Kind seine Einschulung erlebe. Und ihrem langjährigen Partner Clark Gayford versprach sie: "Lass uns heiraten."

Glückliche Fügung

Emotionen. Sie zeichneten den Weg der Polizistentochter durch die Politik. Als Jungsozialistin und Mitarbeiterin der neuseeländischen Premierministerin Helen Clark – und schließlich als Regierungschefin. Es war ein Posten, zu dem sie fast per Zufall gekommen war. Nachdem ihr Vorgänger an der Spitze der Labour-Partei wegen miserabler Umfragewerte zurückgetreten war, trat sie als seine Stellvertreterin an die Spitze. Kurz darauf wurde sie gewählt – und war 2017 mit damals 37 Jahren die jüngste Ministerpräsidentin der Welt.

Es gab nicht wenige Skeptiker, auch in einem Land, in dem starke Frauen in der Politik nicht unbekannt sind – Helen Clark ist nur ein Beispiel. Ardern sei zu jung, meinten einige. Zu unerfahren, andere. Und sie sei eine Frau.

Doch Jacinda Ardern zeigte bald, dass die Skeptiker unrecht hatten.

Es waren mehrere Schicksalsschläge, die den Namen Ardern weit über die Grenzen bekannt machten und ihr zu Hause größtes Ansehen verschafften – oftmals auch unter politischen Gegnern. Die Medien erfanden für die kollektive Begeisterung ein Wort: Jacindamania.

Die Welt lernte Ardern zum ersten Mal kennen, als sie 2019 die Angehörigen von Opfern eines rassistisch motivierten Terrorattentats auf zwei Moscheen in Christchurch tröstete. Statt die Tragödie politisch auszunützen, spendete sie Trost – mit einem muslimischen Kopftuch bekleidet. Trost zu spenden wurde auf tragische Weise zu einer Art Markenzeichen der jungen Politikerin. Nur Monate später wurde Neuseeland erneut von einer Katastrophe erschüttert. Bei einem Ausbruch des Vulkans White Island starben 22 Menschen. Ardern war dort, umarmte die Überlebenden und tröstete jene, die ihre Liebsten in heißer Asche und explodierender Lava verloren hatten.

In nur wenigen Monaten schaffte es Ardern 2017 von der stellvertretenden Oppositionsführerin zur Regierungschefin.
Foto: APA / AFP / MARTY MELVILLE

Harte Covid-Politik

Doch Arderns Erfolg im Volk auf eine Reihe öffentlichkeitswirksamer Tragödien zu reduzieren wäre falsch. Die Politikerin war eine sehr effektive und effiziente Führungsperson. Beobachter rund um den Globus bewunderten die Chuzpe, mit der sie eine praktisch komplette Abschottung der Grenzen durchsetzte, um den Ausbruch von Covid-19 zu verhindern. Zur Verblüffung vieler ausländischer Beobachter machten die "Kiwis", wie sich Neuseeländer gerne selbst nennen, mehr oder weniger bereitwillig mit. Zwar hatte die wirtschaftlich fundamental wichtige Tourismusindustrie etwas von einem Nahtoderlebnis. Doch gleichzeitig lebten die Neuseeländer beinahe in einem Paralleluniversum, in dem der Alltag fast normal weiterging. Erst Ende 2021 wurde die strikte Strategie der Komplettverhinderung von Covid-Infektionen aufgehoben. Experten meinen heute, die Grenzschließung habe tausende Menschenleben gerettet in dem Land mit nur fünf Millionen Einwohnern.

Es dürfte in den kommenden Tagen darüber spekuliert werden, ob Ardern wegen schlechter Umfragewerte der Labour-Partei vor der Wahl im Oktober die Notbremse gezogen hat. Tatsächlich ist das Ansehen Arderns und ihrer Partei in den vergangenen Monaten deutlich gesunken. Eine massive Erhöhung der Lebenshaltungskosten – nicht zuletzt infolge von Covid und Ukraine-Krieg – hat das Leben so vieler Menschen in Neuseeland verschlechtert. Kein Problem aber ist so groß und für viele Kiwis so frustrierend wie das, was Ardern von der konservativen Vorgängerregierung geerbt hatte: ein katastrophaler Mangel an Wohnraum. Für viele Neuseeländer ist selbst das Mieten einer Wohnung zu teuer geworden – falls sie überhaupt eine finden. Der Traum vom Eigenheim ist für die meisten schon lange gestorben.

Die monumentale Aufgabe der Linderung der Wohnungsnot war ein Problem, für das Jacinda Ardern zu wenig Zeit hatte. Ob Terror, Vulkan oder Covid – "ich hatte nie wirklich das Gefühl, dass wir nur regieren", meinte sie. Und jetzt hat sie auch keine Kraft mehr. "Wir alle geben, solange wir geben können, und dann ist es vorbei. Und für mich ist es nun an der Zeit." (Urs Wälterlin, 19.1.2023)