Wie viele Todesopfer die ausklingende Covid-19-Pandemie bisher weltweit gefordert hat, wird wohl länger ein Streitpunkt bleiben. Schätzungen rangieren zwischen sechs und achtzehn Millionen Toten – klar ist, dass Corona tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen hat. Es ist kaum vorstellbar, was die Beulenpest im 14. Jahrhundert in Europa angerichtet haben mochte: Fundierte Schätzungen gehen davon aus, dass Europa, der Nahe Osten und Nordafrika in den sieben Jahren zwischen 1346 und 1353 ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung an die Pest verloren hat.

Nicht nur der "Schwarze Tod"

Den möglichen Ursprung des mittelalterlichen "Schwarzen Tods" will ein Team im Vorjahr in der Gegend des heutigen Kirgisistan entdeckt haben. Mittlerweile vermutet man, dass ein anderer Stamm des Pesterregers Yersinia pestis schon Jahrhunderte davor in Europa verheerend gewütet hatte. Wie Zeitzeugen aus dem sechsten Jahrhundert berichten, habe die schlimme Seuche "die gesamte Welt umfasst und das Leben aller Menschen vernichtet".

Nach manchen Schätzungen könnte die sogenannte Justinianische Pest in 200 Jahren in mehreren Wellen bis 50 Prozent der Bevölkerung des Oströmischen Reiches getötet haben. Zwar konnte man Yersinia pestis tatsächlich als Urheberin der Seuche nachweisen, ob sie jedoch wirklich so viele Opfer gefordert hat, ist keineswegs erwiesen.

Die überwältigende Zahl von Toten, die der "Schwarze Tod" im Mittelalter mit sich brachte, machte in Europa Massengräber notwendig, die manchmal mehrere hundert Leichen aufnahmen. Im Bild: Skelette in einer Pestgrube aus dem 1349 am Friedhof East Smithfield in London.
Foto: Museum of London Archaeology (MOLA)

2017 entdeckte ein internationales Team genetische Hinweise darauf, dass der Pesterreger in Europa sogar schon in der Steinzeit unterwegs war, genauer: am Übergang vom Neolithikum zur Bronzezeit. Die entsprechenden DNA-Spuren stammten aus Gebeinen einer rund 5.000 Jahre alten Grabstätte im heutigen Schweden. Ebenso alt sind vergleichbare Funde aus Lettland, die man 2021 vorgestellt hatte. Manche Forscher spekulieren, dass die Präsenz von Yersinia pestis im Zusammenhang mit einem Bevölkerungsrückgang zu dieser Zeit steht. Auch hier aber sind Beweise kaum zu erbringen.

Viele Fragen bleiben offen

Insgesamt ist das Bild, das man sich von der Verbreitung der Pest von der Antike bis in die Neuzeit macht, vielerorts noch lückenhaft und vage. Welche Kräfte für das Auf und Ab dieser Pandemien verantwortlich waren, warum manche schneller abebbten und andere jahrhundertelang andauern – die Wissenschaft sieht sich in der Geschichte der Pest noch vielen offenen Fragen und Rätseln gegenüber.

Einige wertvolle genetische Mosaiksteine konnte nun ein australisch-kanadisches Forschungsteam beitragen: Die Gruppe um Hendrik N. Poinar von der McMaster University nahe Toronto hat historische Genome in der umfangreichsten Analyse dieser Art systematisch unter die Lupe genommen. Dabei entdeckten sie auch den Grund, warum die DNA des Pesterregers so wenig über seine Vergangenheit verrät.

600 Genomsequenzen

Konkret untersuchten die Wissenschafterinnen und Wissenschafter mehr als 600 Genomsequenzen von Yersinia pestis aus aller Welt. Die Proben stammen dabei von 5.000 Jahre alten Fundorten ebenso wie von Opfern der Justinianischen und mittelalterlichen Pest sowie von Ausbrüchen, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts verzeichnet wurden.

"Die Pest war die größte Pandemie und das größte Sterbeereignis in der Geschichte der Menschheit", sagte Poinar. Dennoch ist es äußerst schwierig, ihrer genetischen Spur durch die Jahrunderte zu folgen. Wie sich bei der Genuntersuchung zeigen sollte, ist dafür der Umstand verantwortlich, dass Yersinia pestis über eine sehr instabile molekulare "Uhr" verfügt. Das erschwere es den Forschenden, die Geschwindigkeit zu messen, mit der sich Mutationen im Pest-Erreger-Genom im Laufe der Zeit ansammeln – und somit auch Ursprung und Entstehungszeitpunkt zu bestimmen, schreiben die Forschenden im Fachjournal "Communications Biology".

Kaum Veränderungen

Alles deute darauf hin, dass Menschen und Nagetiere den Erreger schneller verbreiten konnten, als sich sein Genom entwickelt hat. Die Studie zeigte etwa, dass die Genomsequenzen, die in Russland, Spanien, England, Italien und der Türkei gefunden wurden, praktisch identisch sind, obwohl die entsprechenden Ausbrüche zeitlich weit auseinander lagen. "Das erschwert das Entschlüsseln der Ausbreitungswege enorm", sagte Poinar.

Dennoch gelang es den Forschenden immerhin, im Verlauf der Pestgeschichte fünf unterschiedliche Erregerpopulationen zu identifizieren und zu datieren. Die prominentesten Pandemielinien erwiesen sich dabei als überraschend alt. Wahrscheinlich, so vermuten die Forschenden, entstanden sie bereits Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte bevor sie zu den historisch dokumentierten Pandemien in Europa führten. Man dürfte die Pest freilich nicht auf das Bakterium allein reduzieren, meinte Poinar. "Der Kontext ist enorm wichtig, was auch unsere Daten und Analysen zeigen."

Um die Pandemien unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft richtig beurteilen zu können, sei der historische, ökologische, soziale und kulturelle Zusammenhang besonders wichtig. "Für eine engmaschige Rekonstruktion vergangener Pestpandemien sind genetische Beweise allein nicht ausreichend", sagte Poinar. (tberg, 22.1.2023)