Wer vor das Mikrofon von 1420 tritt, geht in Russland ein Wagnis ein. Interviewer Daniil Orain (rechts) hat das Land mittlerweile verlassen.

Screenshot: Youtube/Kanal 1420

Ganz wohl ist der jungen Frau, die sich in einem verschneiten Moskauer Einkaufsviertel in ein kurzes Gespräch vor laufender Handykamera verwickeln lässt, sichtlich nicht angesichts der Bilder von der zerstörten ukrainischen Frontstadt Bachmut, mit denen sie der Interviewer konfrontiert: "Ich will darüber nicht nachdenken. Es ist zu schlimm, ich will das alles nicht", windet sie sich.

Das Elend der ukrainischen Zivilbevölkerung, das auf den Fotos zu sehen ist, lässt kurz darauf auch zwei junge Burschen, eigenen Angaben zufolge Rapmusiker, betreten in die Kamera blinzeln. "Wir haben das nicht angefangen und können es auch nicht beenden", sagen sie – und wenden sich ab.

1420

Harte Themen

Der Youtube-Kanal 1420, benannt nach der Schule, die Gründer Daniil Orain bis vor kurzem besucht hat, gehört zu den wenigen Orten im Internet, an denen man sich heute noch bequem vom Wohnzimmer aus ein Bild über die Meinung auf Russlands Straßen machen kann. Seit vier Jahren lässt der 22-jährige Orain, im Hauptberuf Software-Entwickler, Passantinnen und Passanten in Moskau, St. Petersburg und auf dem Land in seinen Videos zu Wort kommen – zu Themen wie "Was halten Sie von LGBT?" über "Wie finden Sie Wladimir Putin?" bis zu "Sind wir Bösewichte?".

Weil Orain, der ursprünglich aus der Region Tschuwaschien am Oberlauf der Wolga stammt, Russland kurz nach Kriegsbeginn verlassen hat, stellt nun ein halbes Dutzend seiner Freunde seinen Landsleuten – meist unbotmäßige – Fragen. Häufig fallen deren Antworten weitaus kritischer aus, als angesichts der Repression in Putins Russland zu erwarten wäre. "Dass die Menschen etwa schockiert über die Fotos aus Bachmut sind, hat mich aber nicht überrascht, das war auch früher schon so, als wir ihnen ähnliche Bilder gezeigt haben", sagt Orain.

Digitaler Nomade

Angst vor Verfolgung wegen seiner Videos habe er nicht, sagt der 1420-Gründer – und nennt einen anderen Grund für seine Flucht: "Wegen der Mobilmachung war es lange zu gefährlich zurückzukehren."

Seit Monaten reist Orain daher mit seinem Laptop, auf dem er die in der Heimat geführten Interviews schneidet, durch die Welt. DER STANDARD erreicht ihn in Georgien, zuvor war er etwa in den Niederlanden und in Wien.

Warum 1420 im Gegensatz zu anderen kritischen Medien bisher von Repressionen verschont geblieben ist, erklärt sich Orain mit dem simpel gehaltenen Fragestil: "Wir beleidigen niemanden, auch nicht die Regierung. Wir stellen offene Fragen und lassen Menschen antworten."

Vielleicht sind Orains Videos den Mächtigen im Kreml aber auch schlichtweg egal. Ohnehin will der Youtuber 1420 weniger als russisches Medium verstanden wissen denn als Sprachrohr: 40 Prozent der etwa 300.000 Zuseherinnen und Zuseher kommen aus Nordamerika, aus Russland nur etwa fünf Prozent.

1420

Fremde Politik

Wie bringt er Menschen auf der Straße in Russland dazu, über heikle Themen zu diskutieren? Es brauche einen langen Atem, sagt Orain. Acht von zehn Menschen, die von den 1420-Reportern angesprochen werden, gehen einfach weiter.

Von jenen, die kurz innehalten und in die Kamera sprechen, erklären wiederum viele, sich nicht in die Angelegenheiten der Mächtigen einmischen zu wollen. "Viele betrachten Politik als etwas Fremdes, sie wollen nur ihr Leben leben, Geld für Miete und Essen verdienen. In den Köpfen vieler Menschen bleibt dann keine Kraft mehr, sich Gedanken über Leute wie Putin zu machen."

Nicht wenige sprechen sich in den Videos freilich auch lautstark für Putin aus. Die Ohnmacht gegenüber der Politik, die in fast allen Interviews deutlich wird, für Orain kommt sie nicht von irgendwo: "Unseren Kindern wird nicht beigebracht zu diskutieren." Auch deshalb hält er einen Aufstand gegen Putin für unwahrscheinlich – allen Antworten in seinen Videos zum Trotz: "Dafür bräuchte es wohl einen Katalysator wie damals beim Arabischen Frühling."

Mutige Menschen

Ob er die Menschen, die ihm in den Videos freimütig Rede und Antwort stehen, nicht in Gefahr bringt? "Bisher habe ich nichts über irgendwelche Strafen gehört", sagt Orain. "Unlängst hatte ich Bedenken, weil eine Frau offen in die Kamera gesagt hat, dass Putin ins Gefängnis nach Den Haag gehört", erzählt er. Doch sei das eben ihre Meinung, und die Frau habe dem Interview zugestimmt. "Aber mir ist schon klar, dass ich so etwas von Georgien aus leicht sagen kann", gibt der 22-Jährige zu. Ob er selbst vor der Kamera in Moskau offen sprechen würde? "Nein", sagt er und lacht, "ich würde sagen, ich sei apolitisch, und weitergehen." (Florian Niederndorfer, 20.1.2023)