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Die Meldung war noch keine 24 Stunden alt, da hatte die FPÖ bereits ihre Verschwörungserzählung gestrickt: "Der Umgang mit der Causa Teichtmeister ist bezeichnend für die Doppelzüngigkeit und Verlogenheit der linken Kulturschickeria", hieß es in einer Aussendung. Burgtheater und ORF hätten "einen Mantel des Schweigens" darüber gebreitet, "die Wiener Theaterlandschaft" trage "moralische Verantwortung für diesen Kinderpornoskandal". Auch in den sozialen Medien war der Vorwurf des kollektiven Wegschauens und Zudeckens schnell bei der Hand.

Nicht zuletzt ließ der Regisseur Sebastian Brauneis aufhorchen, als er im STANDARD zuspitzend meinte, "jeder in der Branche" habe es gewusst. Auf Kritik jener, die meinten, sie hätten es eben nicht gewusst, schwächte Brauneis die Aussage ab: Zumindest jeder in seinem eigenen Umfeld habe es gewusst.

"Wissen" im eigentlichen Sinn konnten es freilich nur jene mit Akteneinsicht, die eineinhalb Jahre ermittelnden Behörden etwa, die bei dem Schauspieler Florian Teichtmeister, der sich geständig zeigte, zwischen 2008 und 2021 58.000 Missbrauchsdarstellungen Minderjähriger aus dem Darknet heruntergeladen zu haben, keine Gefahr im Verzug sahen. Daher mussten sie weder das Burgtheater noch andere Arbeitgeber Teichtmeisters von den Ermittlungen in Kenntnis setzten.

Gebotene Vorsicht

DER STANDARD berichtete wie medienrechtlich vorgeschrieben anonymisiert, das Gerücht, dass es sich bei dem Verdächtigen um Teichtmeister handelte, machte in der überschaubaren heimischen Kulturbranche dennoch rasch die Runde. Dass der Name nicht öffentlich geoutet wurde, war aber nicht nur gesetzlich geboten. Der Vorwurf, jemand habe das Schützenswerteste unserer Gesellschaft, das Kindeswohl, mit Füßen getreten, hat in der Regel das unmittelbare berufliche Ende zur Folge – nicht auszudenken, hätten sich die Vorwürfe, wie Teichtmeister seinem beruflichen Umfeld offenbar glaubhaft vorspielte, als haltlos herausgestellt.

Zugedeckt wurde nach aktuellem Kenntnisstand nichts. Das Getuschel bei gleichzeitigem Schweigen folgte vielmehr der gebotenen Vorsicht und Unschuldsvermutung. Ob Einzelne mehr hätten tun können, wird zu prüfen sein. Das Agieren von Burgtheater-Direktor Martin Kušej etwa, der allzu gutgläubig nicht nur nicht die Reißleine zog, sondern Teichtmeister sogar noch im Herbst in einer Hauptrolle in seiner eigenen Inszenierung besetzte, bleibt unverständlich. Arbeitsrechtlich sei weder eine Freistellung noch eine Entlassung Teichtmeisters möglich gewesen, sagt Burgtheater-Anwalt Bernhard Hainz. Teichtmeister wolle man jedenfalls auf Schadenersatz klagen.

So sind wir nicht, oder?

Zu einer Art "So sind wir nicht"-Moment wurde der offene Brief von Kulturschaffenden wie Ruth Beckermann, Elfriede Jelinek, David Schalko oder Eva Menasse, in dem man sich dagegen verwehrte, "jeder" habe "es gewusst", und zugleich dafür plädierte, den Film Corsage, in dem Teichtmeister eine größere Rolle spielt, nicht aus den Kinos und dem Oscar-Rennen zu verbannen. Dem Täter würde sonst eine Macht gegeben, die ihm nicht zustehe.

Die Frage nach dem "Canceln" ist in der Branche umstritten. Als Akutmaßnahme in der sensiblen Phase eines solchen Skandals mag das Auf-Eis-Legen vielleicht doch die bessere Lösung sein – was noch nicht heißt, das Werk auf alle Ewigkeit zu verbannen. Gut möglich etwa, dass die Sisi-Parabel Corsage, die von überkommenen Geschlechterrollen handelt, dereinst noch mehr zu erzählen haben wird: Als Film, der um 1900 spielt, in einer Zeit, in der nicht nur Frauenunterdrückung, sondern auch Pädophilie gesellschaftlich toleriert war, wird Corsage vielleicht wie ein Fanal für die traurige zeitliche Kontinuität des Missbrauchs gesehen werden.

Pädophilie um 1900, da fallen die Namen Adolf Loos und Peter Altenberg. Kindesmissbrauch in jüngerer Zeit, das heißt unter anderen Klaus Kinski und Michael Jackson. Die ewige Streitfrage, inwieweit Künstler und Werk getrennt voneinander zu betrachten sind, lässt sich wohl am ehesten daran bemessen, wie sehr die Person des Künstlers in seinem Werk präsent ist. Letztlich kann die Frage immer nur subjektiv am Einzelfall beantwortet werden.

Kunst und Moral

Klar aber ist: Lange Zeit wurde das verwegene Verhältnis des Künstlers zur bürgerlichen Moral geradezu kultiviert. Von der Renaissance bis weit ins 20. Jahrhundert wurde dem Künstler die Rolle desjenigen zugedacht, der Grenzen auslotet und überschreitet, der den Rahmen des Zulässigen sprengt und in einer Art von genialischer Überhöhung Narrenfreiheit genießt.

Noch im Fahrwasser der 68er-Generation, deren wichtigem Bemühen um sexuelle Befreiung die liberale Gesellschaft viel zu verdanken hat, tummelten sich eben auch jene, die den Freiheitsgedanken pervertierten: Kommunen wie jene Otto Muehls, die zu Horten des Missbrauchs wurden, oder fragwürdige Pädophilie-Entkriminalisierungsdebatten bei Teilen der frühen Grünen nähren bis heute den Verdacht, "die Linke" habe hier ein Problem.

Kein Wunder also, dass Rechtsparteien wie die FPÖ, deren langfristiges Ziel in der Rückabwicklung aller Errungenschaften von 1968 besteht, mit einem Skandal wie dem jetzigen politisches Kleingeld wechseln wollen. Hinzu kommt aber noch etwas: Wenn Künstler zu Tätern werden, ist die moralische Fallhöhe besonders hoch. Nicht nur, dass vom Künstler als genialisch wahrgenommenem Vorbild Unfehlbarkeit erwartet wird, allzu oft ist gerade er es, der sich als Vorkämpfer einer besseren, gerechteren, moralischeren Gesellschaft geriert.

Kein Spielraum für ...

Erst in den letzten fünfzehn Jahren dämmerte der Branche, dass es an der Zeit wäre, Moral nicht nur nach außen zu predigen, sondern auch nach innen zu leben. Vielerorts, auch am Burgtheater, wurden Intendanten und Regiedespoten alter Schule durch öffentliche Gesten des Aufschreis Grenzen aufgezeigt.

Langsam, aber doch stieg das Bewusstsein dafür, dass eine Branche, in der körpernah und psychisch wie physisch herausfordernd nicht selten Problemstoffe erarbeitet werden, genaue Spielregeln braucht. Die Bundestheater haben ihre 2019 mit der Broschüre "Kein Spielraum für sexuelle Belästigung" erarbeitet. 2020 wurde für den Film die Anlaufstelle #we_do! geschaffen, und erst im vergangenen Sommer nahm mit vera* eine groß aufgestellte Vertrauensstelle für Missbrauchsfälle in Kunst und Sport den Betrieb auf.

Der Eindruck der letzten Jahre, wonach die Kulturbranche von Hollywood bis in die Niederungen Wiens von Tätern übersät sei, mag vielleicht derselben These geschuldet sein, die der Soziologe Aladin El-Mafaalani für das Thema Rassismus aufgestellt hat: Verglichen mit früheren Jahrzehnten nehme das Bemühen um Gleichheit und Wohlverhalten eher zu als ab, und gerade weil es zunehme, gelangten immer mehr Frauen (oder auch People of Color) in die Lage, übergriffiges Verhalten überhaupt artikulieren zu können.

Ein Lernprozess

Gerade weil die "Awareness" steigt, weil Anlaufstellen und Ethikregeln geschaffen werden, kommt der Schmutz an die Oberfläche. In einem Fall wie jenem Teichtmeisters wird zudem deutlich, wie wichtig es ist, dass Strafverfolgungsbehörden vor der Prominenz ihrer Verdächtigen nicht zurückschrecken. Auch das war nicht immer so.

Das Burgtheater wird nach dem Finanzskandal 2013/14, durch den man das Einmaleins zeitgemäßen Wirtschaftens lernen musste, nun auch aus dem Fall Teichtmeister seine Lehren ziehen müssen. Martin Kušej wird 2024 nach nur fünf Jahren abgelöst. Sein designierter Nachfolger Stefan Bachmann musste sich 2018 am Kölner Theater Kritik wegen seines Führungsstils gefallen lassen. Er habe daraus gelernt, sagt er. Eine Branche, die lernt, ist auf dem richtigen Weg. (Stefan Weiss, 21.1.2023)