Arsenal-Trainer Mikel Arteta herzt Bukayo Saka.

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Martin Ödegaard bejubelt den Derbysieg gegen Tottenham.

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Die Ashburton Army unterstützt Arsenal.

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Die Botschaft der Arsenal-Fans war eindeutig, als sie im August 2021 vor Mikel Artetas Auto standen. "Bitte verlass den Verein!", flehten sie den Trainer an. Die Gunners hatten kurz davor das Derby gegen Chelsea mit 0:2 verloren. Eine Woche später kam es noch schlimmer: Das desaströse 0:5-Debakel gegen Manchester City markierte den schlechtesten Saisonstart seit 1954/55. Zum Drüberstreuen hatte Arsenal in der Saison zuvor als Achter zum ersten Mal seit 26 Jahren den Europacup verpasst. Boulevardmedien spekulierten bereits, wer Arteta nachfolgen könnte. Vergebens. Denn der Verein hielt am so unter Druck stehenden Trainer fest.

Nun, eineinhalb Jahre später, lachen die Nordlondoner von der Tabellenspitze der Premier League. Fünf Punkte vor Manchester City, acht vor Newcastle und Manchester United. Und vor dem Duell mit Letzteren am Sonntag (17:30 Uhr, live auf Sky) fragen sich viele: Wie hat Arsenal diese Trendwende geschafft? Warum kämpfen die Gunners heuer, so zumindest mehr und mehr der Glaube von Fans und Medien, um den ersten Meistertitel seit 2004?

Sehnsucht nach den Invincibles

Damals, 2004, war Arsenal das Maß aller Dinge. Schüler der damaligen Zeit werden heute vermutlich nicht mehr, wie von Mathelehrkräften erhofft, die binomischen Formeln im Schlaf aufzählen können, aber die damalige Meistermannschaft – die sitzt! Trainerlegende Arsène Wenger führte Thierry Henry, Robert Pires, Dennis Bergkamp und Co mit begeisterndem Offensivfußball ungeschlagen zum Titel – die Invincibles, die Unbesiegbaren, waren geboren.

Arsène Wenger hinterließ ein großes Erbe.
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Siege waren selbstverständlich, in den 2010er-Jahren dann nicht einmal mehr die Qualifikation für die Champions League, also die Top Vier. US-Eigentümer Stan Kroenke warf im Gegensatz zur (Scheich-)Konkurrenz nicht mit Geld um sich. Sein anderes Spielzeug – die Los Angeles Rams (NFL), die Denver Nuggets (NBA), die Colorado Avalanche (NHL) und die Colorado Rapids (MLS) – brauchte ja auch die Aufmerksamkeit des Milliardärs.

Junge Truppe

In dieser schwierigen Phase übernahm Ende 2019 schließlich Arteta den Trainerposten. Der Spanier lief selbst 109-mal für die Gunners auf. Nun sollte er Arsenal zurück an die Spitze führen. "Ich verlange nicht, dass jeder Spieler drei Gegner ausdribbelt und jeden Schuss ins Kreuzeck trifft", sagte er in der Amazon-Dokumentation "All or Nothing". Aber er setzt auf "Respekt, Hingabe und Leidenschaft. Diese Werte sind unverhandelbar."

Was dies in der Praxis bedeutet, erfuhr wenig später Pierre-Emerick Aubameyang – nicht irgendwer, sondern Kapitän, Torjäger und einer der wenigen Lichtblicke in den Jahren zuvor. Als der Gabuner von einer privaten Reise erst einen Tag später als angekündigt zurückkam, flog er aus dem Kader. Arteta nahm ihm, auch aufgrund anderer Disziplinlosigkeiten zuvor, die Kapitänsschleife ab. Im Februar 2022 floh der Stürmer zum FC Barcelona.

Auch die arrivierten Mesut Özil und Sokratis ließ Arteta ziehen. Er setzt nicht auf große Namen, sondern auf Talente und baute die Mannschaft um. Heute ist sie mit einem Durchschnittsalter von 24,1 Jahren pro Spiel die jüngste der Liga. Bestes Beispiel: die Flügelzange. Der 21-jährige Bukayo Saka stammt aus der eigenen Jugend, der gleichaltrige Gabriel Martinelli kam für rund sieben Millionen Euro aus Brasilien.

"Ich entwickle gerne Spieler", sagt Arteta. Aber dies brauche Zeit. Und die ist in der schnelllebigen Fußballwelt kaum vorhanden. Der schnelle Erfolg ist gewünscht – siehe Fans vor Artetas Auto. Geduld oder längerfristige Pläne sind Mangelware. Arteta überstand die heiklen Phasen. Sportdirektor Edú Gaspar, einst Teil der Invincibles, und er ziehen an einem Strang.

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Überlegte Transfers

Wenn die Gunners doch einmal tiefer in die Tasche greifen, verstärken sie sich gezielt, aber nicht mit Stars. Thomas Partey kam für 50 Millionen Euro von Atlético Madrid. Der Ghanaer ist der Fels in der Brandung und ermöglicht seinen Mittelfeldkollegen Granit Xhaka und Kapitän Martin Ödegaard, sich weiter vorn einzuschalten. Letzterer, einst als Wunderkind zu Real Madrid gekommen, etablierte sich in London in der Weltspitze. Der Norweger besticht mit seiner Kreativität und ist auch in größter Bedrängnis die Ruhe in Person. Zuletzt erzielte der 24-Jährige das 2:0-Siegtor bei Erzrivale Tottenham.

Erfrischender Offensivfußball

Die Nordlondoner beherrschen das Ballbesitzspiel, können aber auch jederzeit giftige Konter spielen. "Ohne Ordnung herrscht nur Chaos", sagt Arteta. Seine Truppe müsse daher jederzeit antizipieren können, wer was wann auf dem Spielfeld vorhabe. Das Positionsspiel lief von Saison zu Saison besser, die Kombinationen geschmierter. Kein Wunder, war Arteta doch Pep Guardiolas Co-Trainer.

Im Sommer holte er den pressingstarken Gabriel Jesus und Außenverteidiger Oleksandr Zinchenko von den Citizens. William Saliba, davor an Marseille verliehen, kehrte zurück und bildet mit Gabriel ein bewährtes Innenverteidigerduo. Ben White rückte dafür nach rechts. Und so fügte sich das Puzzle mehr und mehr zusammen. Bei seinem Amtsantritt sah Arteta fünf Phasen für die weitere Entwicklung im Verein vor. "Aktuell sind wir vor dem Plan", lächelte er jüngst.

Erfreute Fans

Die Fans danken es ihm. Arteta formte nicht nur das Team, sondern auch die Anhänger wieder zu einer eingeschworenen Gemeinschaft. Wenn man mit Herz und Hirn spiele, trichterte er seinen Spielern einst bei einer Kabinenansprache ein, spürten die Fans dies und würden weitere Energie freisetzen. Seit 2019 heizt die neu gegründete Ultrabewegung der Ashburton Army, benannt nach dem Stadtviertel Ashburton Grove, die Stimmung im Emirates-Stadion an.

Ob sie am Ende wirklich den so heiß ersehnten Meistertitel feiern kann, werden die nächsten Wochen zeigen. Arsenal muss noch zweimal gegen ManCity ran. Zudem ist die Frage, ob der Kader der Gunners tief genug besetzt ist. Gabriel Jesus fällt nach einer Knieoperation monatelang aus, Eddie Nketiah konnte ihn zuletzt im Sturmzentrum ersetzen. "Wir müssen weiterhin jedes Transferfenster optimal nützen", sagte Arteta zuletzt. Kurz darauf schnappte ihm Chelsea Außenstürmer Mykhailo Mudryk von Shakhtar Donezk für 100 Millionen Euro weg. Die Rot-Weißen wollen nun Leandro Trossard von Brighton für kolportierte 25 Millionen Euro holen. Und Emile Smith Rowe kehrt nach einer Leistenverletzung zurück.

"Wir stehen verdient ganz oben", sagt der 40-jährige Arteta. "Aber die Saison ist noch lang." Sein Vorvorvorgänger glaubt an den Meistertitel. "Sie können den ganzen Weg bis zum Ende gehen", sagte Arsène Wenger. "Sie haben alles, was man braucht – ich sehe keine Schwächen." (Andreas Gstaltmeyr, 22.1.2023)