Damiano David (Mitte) und Måneskin: "Ich bin süchtig nach Rock ’n’ Roll, yeah!"

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Heute scheint es etwas in Vergessenheit geraten zu sein, aber: Rock ’n’ Roll ist kein Lebensentwurf für Leute, die sich vor dem Schlafengehen brav die Zähne putzen und darauf Wert legen, dass der Schlaf vor Mitternacht der gesündeste sei. Wer den Rock ’n’ Roll lebt, der führt ein gefährliches Leben. Von wegen: Schubse mich nicht, ich stehe nahe am Abgrund! Nach ihrer Kollaboration mit dem alten Freikörperkultur-Punk Iggy Pop aus 2021 für I Wanna Be Your Slave, eine sexuell leichter nachvollziehbare Variation von dessen Devianzklassiker I Wanna Be Your Dog, war klar: Die jungen Römer von Måneskin um Damiano David werden da wohl noch eine Schaufel nachlegen.

Auf ihrem brandneuen Album Rush! nun wird es im Song Kool Kids richtig krass. Die Gewinner des Eurovision Song Contest 2021 haben mittlerweile alle Hemmungen fallengelassen. Damiano, was etymologisch so viel bedeutet wie "Bezwinger" oder "mächtiger Mann", brüllt mit nasaler, immer auch ein wenig im Ohr schmerzlich bohrender Stimme zu einem von den alten Göttern der Stromgitarrenmusik hergeleiteten Sex-Pistolen-Riff. Zu dem kann man von der Bühne aus auch prächtig angewidert hinunter ins Publikum starren: "Coole Kids benutzen keine Zahnseide / Heirate mich draußen in der Natur / Ehrlich gesagt, ist mir alles scheißegal / Ich bin süchtig nach Rock ’n’ Roll, yeah!"

Das ist kein Witz. Danach geht es weiter mit Bier – und warum Damiano keinen Gin trinkt. Coole Kids jedenfalls nehmen gar keine Drogen. Marihuana geht aber, weil das nicht so stark einfährt. Außerdem verkündet unser Held, dass er ein ziemliches Luder sei, aber gerade deshalb jede Menge Spaß habe.

Ambitioniert und lebensfroh

Måneskin ist Dänisch und bedeutet "Mondschein". Bassistin Victoria De Angelis hat dänische Wurzeln. Die Band veröffentlicht nach einer Tournee im Vorprogramm der Rolling Stones in den USA, einem Soundtrack-Beitrag zu Baz Luhrmanns Elvis-Biopic, einem Nipplegate bei den MTV Music Video Awards im Vorjahr sowie diversen globalen Streamingrekorden nun ihr erstes Album auf Englisch.

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Ein italienischer Akzent gilt in der angloamerikanischen Populärkultur ja spätestens seit Martin Scorseses oder Francis Ford Coppolas Filmschaffen als eine sichere Bank bei einem Publikum, das im wirklichen Leben nicht so viel mit den im Kino gezeigten Leuten zu tun hat. Deshalb hat man Damiano David vor den Studioaufnahmen wahrscheinlich extra nicht in einen Schnellsiederkurs für korrekte englische Aussprache geschickt.

Produziert hat das mit 17 Songs reichlich ambitionierte und lebensfrohe Album Rush! unter anderem der schwedische Poptitan und Komponist Max Martin. Der Mann hat unter anderem Britney Spears mit ... Baby One More Time und Katy Perry mit I Kissed a Girl sowie Taylor Swift und The Weeknd groß gemacht. Er kennt sich bei P!nk und Celine Dion ebenso aus wie bei Die Schlümpfe – und er hat für Bon Jovi das Lied It’s My Life geschrieben. Yeah!

Ausschweifen in Lack und Leder

Für Måneskin versucht sich Martin nun im Grungerock und Funk der Band-Idole Nirvana und Red Hot Chili Peppers, etwa in Supermodel und La Fine. Für ein quietschendes Gitarrensolo in Gossip holte er Tom Morello von Rage Against the Machine ins Studio. Das restliche Songangebot, etwa Bla Bla Bla, Mark Chapman oder das zum Intimzonentattoo Damianos passende Mammamia klingen wie die Schnittmenge aus einem Tag mit FM4.

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Da ist für jeden etwas dabei. Allerdings fällt dann bei einer Ballade wie The Loneliest oder dem Nickelback-Gedächtnissong Timezone doch auf, dass die Ursprünge der Band nicht in der Ablehnung von Zahnseide liegen, sondern eher bei Eros Ramazzotti auf einem Bikertreffen oder der Schlagernacht in San Remo. Das mit dem Ausschweifen in Lack und Leder ist dann erst später gekommen. (Christian Schachinger, 21.1.2023)